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»Zivilcourage ist zeitlos und kennt keine Grenzen«
Swetlana Tichanowskaja vergleicht Widerstand gegen Hitler mit der Opposition in Belarus
Die Rede musste Robert Habeck von seiner Staatssekretärin vortragen lassen. Der Wirtschaftsminister und Vizekanzler konnte nicht persönlich zum Gedenken am Jahrestag des Hitler-Attentats erscheinen. Angesichts des Krieges in der Ukraine forderte Habeck, sich in Deutschland stärker auf die Länder Osteuropas zu fokussieren. Mit Verweis auf den umstrittenen US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder sprach er von der Verantwortung Deutschlands, den Ländern zuzuhören, über die es einst Leid und Zerströrung brachte. Snyder hatte mit seinem Buch »Bloodlands« für Aufsehen gesorgt, in dem er insbesondere die Ukraine, aber auch Belarus als Opfer des faschistischen Deutschlands und der stalinistischen Sowjetunion darstellt.
Obwohl die Arbeit unter Historikern wegen ihrer offensichtlichen handwerklichen und wissenschaftlichen Mängel äußerst umstritten ist, gilt sie spätestens seit 2014 als Standardwerk aller Ukraine-Freunde, die sich damit in ihrer Auffassung bestätigt sehen, Hitler und Stalin seien gleichwertige Schlächter gewesen, die es in erster Linie auf die Ukraine abgesehen haben. Auch Habeck folgte diesem Narrativ, um noch die Kurve zum nördlichen Nachbarland Belarus und die Gastrednerin Swetlana Tichanowskaja zu bekommen. Nachdem deren Ehemann Sergej wegen seiner politischen Ambitionen ins Gefängnis musste, trat die heute 39-Jährige bei der Präsidentschaftswahl 2020 als Kandidatin gegen den autokratischen Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko an. Der monatelange Protest im Sommer vor zwei Jahren war beeindruckend und brachte Belarus auf die mentale Landkarte vieler Menschen in Deutschland.
Dank und Warnung an Deutschland
Tichanowskaja, die im litauischen Exil lebt, zog in ihrer Rede in der Gedenkstätte Plötzensee Parallelen zwischen dem Widerstand gegen Hitler und dem Widerstand in ihrem autoritär regierten Heimatland gegen Machthaber Lukaschenko. Belarus sei ein Gefängnis geworden, erklärte sie und erinnerte daran, dass es aktuell 1254 politische Gefangene gebe, darunter ihr Mann. »Zivilcourage ist zeitlos und kennt keine Grenzen«, sagte Tichanowskaja. Das deutsche Beispiel habe gezeigt, dass der Mut einiger Menschen große Auswirkungen haben kann.
Der belarussische Kampf von heute sei durch kleine Aktionen von Menschlichkeit und Mut definiert, so die Politikerin. Nachdem das Regime Lukaschenko nach Ansicht Tichanowskajas 2020 kurz vor dem Sturz stand, ist es heute repressiver als je zuvor. Erst vor Kurzem wurde die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet. Für die Nicht-Anerkennung Lukaschenkos lobte Tichanowskaja Deutschland: »Ihr habt euch geweigert, das illegitime Regime anzuerkennen. Ihr habt belarussische Flüchtlinge innerhalb eurer Grenzen willkommen geheißen.« Zugleich mahnte sie, dass Diktaturen nicht gedeihen dürfen und warnte mit Blick auf die NS-Zeit vor einer Appeasement-Politik gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Belarus kämpft für die Ukraine und damit für Europa
Mit der Gleichsetzung Adolf Hitlers und Wladimir Putins bedient Tichanowskaja das Snydersche Narrativ und auch das aus Kiew, wo »Putler« seit 2014 Staatsfeind Nummer eins ist. Deutschland müsse sich entschiedener im Ukraine-Konflikt engagieren, so Tichanowskaja, die voller Stolz über die Cyber- und Eisenbahnpartisanen in Belarus spricht, die mit Hackerangriffen und Sabotageakten Russlands Aufmarsch verlangsamen und einen Kriegseintritt von Belarus bisher verhindert hätten. So sieht es zumindest die Opposition. Wie groß die Auswirkungen der Partisanen sind, kann man nur vermuten.
Tichanowskajas Auftritt in Berlin fordert geradezu dazu auf, den weißen Fleck Osteuropa mit Farbe zu füllen. In einem »Spiegel«-Interview sprach sie sich gegen Gewalt aus, in der Gedenkstätte Plötzensee lobte sie hingegen die mehr als 1500 Freiwilligen, die in der Ukraine gegen Russland kämpfen. Dass viele von ihnen glühende Nationalisten sind, ist für Tichanowskaja nicht wichtig. Diese Fragen stellt in Europa im Kampf gegen »Putler« niemand.
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