Sehnsucht und Kassler-Gen

Zum Anachronismus des deutschen Wunsches nach Ferne

  • Hans-DieterSchütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Immer nur in den eigenen Wänden? Das ist die Villa Verfolgungswahn. Denn zu Hause bin ich mir zu nahe, Rechthaberei und Borniertheit summieren sich rasch zu einer deprimierenden Last. Also: Ganz ohne Entfernung geht es nicht. Aber wohin? Goethe lässt seine Iphigenie auf Tauris von jener Sehnsucht sprechen, das Land der Griechen mit der Seele zu suchen. Wir wissen längst, mit Hilfe des Reisebüros geht das weit schneller. Sandalen statt Seele. Freilich: Das mit der Sehnsucht ist ein ernstes Problem unserer inneren Verfassung. Wir werden gepeinigt vom tiefen Wunsch, just sommers woanders zu sein und das Schöne, Gute, Wahre ausdauernd dort zu vermuten, wo wir gerade nicht sind. Und meistens ist man ja in einer deutschen Kleinstadt. Dies Schicksal ist bitter.

Leider ist unsere Sehnsucht niemals wirklich glücklich, sie kann nur melancholisch auftreten. Es ist ein Seelenfunke, der jenes Ungenügen, das uns gewöhnlich umgibt, erträglich machen soll. Der Wunsch nach Ferne ist hierzulande nichts anderes als der wimmernde Wunsch, sich ein anderes Lebensgefühl kaufen zu können. Denn jeder Deutsche ist überzeugt, alle anderen Deutschen seien sehr engherzige, spießige, geradezu soldatisch gestimmte Typen, die auch im Urlaub nur auf Dienstreise sind. Für jedes deutsche Ding gibt es daher den passenden Klageton. Überall sonst auf der Welt, so das spezielle Sommer-Süden-Klischee, sind die Leute entspannt – nur Deutschland, so entblöden wir uns gern, ist eine Hölle.

Wer sich zum Beispiel links wähnt, bastelt aus allen hiesigen Um- und Zuständen gern einen germanischen Ausbund aus Größenwahn, uncharmanter Anmaßung, schweißtreibender Arbeit. Der deutsche Humor, die deutschen Fähnchen beim Fußball, der Fasching, die Volksmusik, die deutsche Demokratie, sogar das deutsche Essen – schon floriert die Produktion von Antikörpern. Wir sind Masochisten der Selbstanklage. Ist es also auch  Selbsthass, der uns zu multikulturellen Predigern und Strebern macht? Eine Nachwirkung böser nationaler Geschichte? Gewiss.

Aber vielleicht sind wir auch zu sehr geschlagen mit einer Mittel-Lage der Ausgewogenheit. Wir liegen zwischen Norden und Süden, wir verfügen über Meer und Hochgebirge – geografisch, klimatisch und auch in anderen (sozialen, politischen) Dingen neigt Deutschland vergleichsweise verlässlich zur Balance. Weil wir vor Mitte überquellen, gelingt es uns möglicherweise nicht so gut, diese Mitte mit Wohlbefinden auszufüllen. Wir reisen nicht, um irgendwo anzukommen; wir reisen nur, um uns selber zu entkommen. Das Furchtbare daran ist bloß, dass man uns das überall ansieht. Was uns umgehend noch fremder, hilfloser – und also deutscher macht. Unsere Sehnsucht erniedrigt uns zu Ruhelosen. Wir sind dauernd damit befasst, das Eigene zu verteufeln, aber jeden Italiener, jeden Franzosen, jeden Spanier zu beneiden. Wir funktionieren die Realität um: Fremde Aufdringlichkeit definieren wir um in zupackenden Charme, Lautstärke in Frohsinn; alles, was uns eigentlich zuwiderläuft, das interpretieren wir – nur weil es andere praktizieren – als eine Lebensart, der wir traurig hinterherhecheln.

Unsere Sehnsucht nach dem Fremden wird nur durch eines übertroffen: unsere Unfähigkeit, das Fremde wirklich als das Fremde zu genießen. Wir fahren und fahren, aber eben nicht aus unserer Haut. Im Ausland, im Urlaub, siegt binnen kurzer Zeit doch wieder das Kassler-Gen, die Mentalität der Erbsensuppe. Dass wir anders sein wollen, als wir sind – es ist auch Ausdruck eines Zeitgeistes: Die Gesellschaft applaudiert nämlich jedem, der Übereinstimmung mit sich selbst für weniger wichtig hält als Übereinstimmung mit anderen. Ausgerechnet die Welt der uneingeschränkten Freiheit schuf eine ganze Kulturindustrie, die beflissen die Abstände zwischen uns schleift. Und: Deutsche, die Deutschland mit Unglück gleichsetzen, leiden garantiert an irgendeinem persönlichen Unglück, das sie flugs auf die Gesellschaft hochrechnen. 

André Glucksmann schrieb: „Wir Franzosen haben uns an das gewöhnt, was sehnsüchtig verklärende Ausländer seit Ewigkeiten als das Bild unseres Landes gemalt haben. Ein Bild, für das man jedes Jahr erhebliches Urlaubsgeld zu bezahlen bereit ist. Mit der Realität hat dieses Bild nichts zu tun. Aber wer will schon die Realität, wenn es ans Träumen geht?» Kann man’s deutschlicher sagen?

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