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Der graue Markt ist zurück
Russlands Regierung beruhigt mittels Parallelimport die Nachfrage im Land
Wer in Russland nicht das Blindschreiben gelernt hat, bekommt zunehmend Probleme im Umgang mit seinem Computer. Zumindest wenn es ein Neugerät ist. Denn in den Elektronikläden zwischen Kaliningrad und Wladiwostok landen immer mehr Laptops und PCs ohne russische Tastatur. Neu ist das Problem nicht, bringen doch viele Menschen aus ihrem Urlaub in Nordamerika oder Europa neue Laptops mit, die dort oft einige Hundert Euro günstiger sind. Zurück in der Heimat, führt der Weg zum Graveur, der binnen weniger Minuten die russischen Buchstaben in die Tastatur einlasert. In den drei Monaten seit Beginn des Krieges in der Ukraine kommen vermehrt Kunden, um sich die Kyrilliza nachlasern zu lassen, erklärten Branchen-Insider der Tageszeitung »Kommersant«. Die Nachfrage habe sich verdoppelt, heißt es.
Schätzungen gehen davon aus, dass bis zum Jahresende jeder zehnte Rechner nachrussifiziert werden muss. Was die Gravur-Branche freut, führt bei anderen zu Kopfzerbrechen. Laut einer Quelle aus russischen Regierungskreisen, die der »Kommersant« zitiert, hat der »Tastatur-Gate« durchaus auch ernste Auswirkungen. Etwa dort, wo Staatsaufträge für die Digitalisierung nicht erfüllt werden können, da den Eingabegräten die richtige Sprache fehlt.
Breites Spektrum an Parallelimport
Die Episode rund um die Tastaturen ist nur eine von vielen, die Russlands »neue Realität« hervorbringt. Die lautet seit Ende Februar Krieg im Nachbarland und damit einhergehend Sanktionen, Flucht ausländischer Produzenten und Lieferstopps nach Russland. Bereits Ende März gab es erste Forderungen nach Wiedereinführung des Parallelimports, also die Einfuhr von Waren ohne die Erlaubnis des Produzenten. Den musste Russland auf Druck westlicher Unternehmen 2008 verbieten, als das Land der Welthandelsorganisation WHO beitrat. Schon nach der Annexion der Halbinsel Krim 2014 wurden die Pläne wieder aus der Schublade geholt – und verschwanden dort wieder, als westliche Unternehmen doch im Land blieben.
Ende Juni ratifizierte Präsident Wladimir Putin schließlich den Parallelimport und schützt damit russische Händler vor etwaigen Ansprüchen der Rechteinhaber vor Gerichten. Die können seitdem offiziell Waren nach Russland einführen, ohne dass der Rechteinhaber dies erlaubt. Putin machte damit offiziell, was bereits länger praktiziert wurde. Anfang Mai veröffentlichte das Wirtschafts- und Handelsministerium eine 23 Seiten lange Liste mit genehmigten Parallelimporten. Darauf finden sich vor allem Automarken und Elektronikhersteller, die den russischen Markt verlassen haben; aber auch Spielkonsolen, Bäume, Pelze, Waffen und Atomreaktoren.
Über 100 Warengruppen umfasst die Liste mittlerweile und hat den russischen Verbrauchermarkt umgekrempelt. Weil etwa Smartphones von Apple oder Samsung, die aus dem Parallelimport stammen, nicht in den offiziellen Läden verkauft werden dürfen, wurden Onlineplattformen wie Ozon und Wildberries zur treibenden Kraft des Handels. Eine der größten Herausforderungen für die Händler ist die Erschließung neuer Lieferrouten nach Russland. Viele ausländische Unternehmen begründeten mit den unsicheren Lieferketten im März die Einstellung ihres Russland-Geschäftes. Experten wiesen bereits kurz nach Kriegsbeginn darauf hin, dass man schon einen Weg finden werde, die Ware zu den russischen Kunden zu bringen.
Wirtschaft stellt sich auf die neue Situation ein
Jobanzeigen deuten darauf hin, dass sich die russische Wirtschaft zunehmend auf die »neue Realität« des Parallelimports einstellt. In St. Petersburg werden Menschen gesucht, die neue Zustellwege erschließen; und in Moskau werden die ersten Manager für den Parallelimport gesucht. Diese müssen neben Kenntnissen des europäischen und asiatischen Marktes auch noch ein sehr gutes Englisch und am besten noch Chinesisch vorweisen können. Das Einstiegsgehalt liegt bei 100 000 Rubel (1800 Euro) im Monat, für russische Verhältnisse nicht schlecht.
Russische Experten sind überzeugt, mit dem Parallelimport einem Defizit im Land entgegenzusteuern – auch wenn die Waren teurer sind als vor dem Krieg. Wie viel tiefer die Russen künftig in die Tasche greifen müssen, ist noch nicht ganz klar. Schätzungen zufolge könnten es zwischen 5 und 15 Prozent sein. Gerüchten, dass damit die Inflation im Land vorangetrieben werde, erteilte Zentralbankchefin Elwira Nabiullina kürzlich eine Absage. Ganz im Gegenteil geht sie davon aus, dass das wachsende Warenangebot zu einer Stärkung des Rubel führen werde.
Geht es nach Denis Manturow, sind alle Spekulationen um Engpässe, Preise und Inflation bald schon Makulatur. Vor wenigen Tagen erklärte der Vizepremier und Handelsminister den Parallelimport teilweise zum Auslaufmodell. Sobald man die Waren in Russland produzieren könne, solle man den Import komplett einstellen, so Manturow.
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