Verabredungen am Lanark Way

An Brennpunkten in Belfast wird der brüchige Frieden zwischen nordirischen Katholiken und Protestanten immer mehr erschüttert

  • Dieter Reinisch, Belfast
  • Lesedauer: 8 Min.
"Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden", steht auf dem Tor am Belfaster Lanark Way. Immer wieder kommt es an der Grenze zwischen den katholischen und protestantischen Vierteln zu Auseinandersetzungen.
"Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden", steht auf dem Tor am Belfaster Lanark Way. Immer wieder kommt es an der Grenze zwischen den katholischen und protestantischen Vierteln zu Auseinandersetzungen.

Am vergangenen Montagabend schwebte über dem Westen Belfasts ein Polizei-Helikopter in geringer Höhe. Vom Stadtzentrum aus war er gut zu sehen, denn trotz dicker Wolkendecke regnete es nicht – eine Seltenheit in Nordirland. Ein Einsatz des Hubschraubers im Zusammenhang mit Hausdurchsuchungen ließ sich fast sicher ausschließen. Durchsuchungen der nordirischen Polizei PSNI bei republikanischen oder loyalistischen Aktivisten finden meist in den frühen Morgenstunden statt.

Der Grund des Einsatzes: Unruhen in einer »interface area«, einem jener Gebiete, wo in Belfast die katholischen mit den protestantischen Wohnvierteln aufeinandertreffen. An dem Abend hatten sich Jugendliche zu Krawallen am Lanark Way und der North Howard Street verabredet. Im Laufe der Nacht von Anrainern gemachte Videoaufnahmen zeigen Dutzende vermummte Jugendliche in schwarzen Trainingsanzügen und bewaffnet mit Schlagstöcken, die vom nördlich gelegenen protestantischen Viertel kommend das Interface durchschreiten. In einem anderen Video ist zu sehen, wie unionistische Jugendliche versuchen, ein Auto mit einer jungen Frau am Steuer aufzuhalten und zu entführen. Die Frau konnte sich mit ihrem Auto ins katholische Viertel retten.

Einige Tage später treffe ich Kevin, der in dem katholischen Wohngebiet Lower Falls seit seiner Geburt lebt. Gemeinsam gehen wir die längste und höchste Mauer Nordirlands entlang. Sie schlängelt sich vom Stadtzentrum über mehrere Meilen Richtung Nordwesten zwischen der katholischen Falls Road im Süden und der protestantischen Shankill Road im Norden bis zur Upper Springfield Road.

Am Anfang der Mauer zeigt Kevin aus der Entfernung auf zwei Tore: »Ich wurde 1967 geboren und habe diese beiden Tore noch nie offen gesehen.« Gegenüber einem liegt rund 200 Meter die Parcy Street hinunter eine Grundschule. An ihrer Fassade befinden sich gut erkennbare Einschlusslöcher: »Bevor die Mauer gebaut wurde, haben die Loyalisten immer von ihrer Seite auf die Schule geschossen.«

Zwei Blocks weiter westlich liegt neben einem Fitnessstudio die North Howard Street. Das Interface hat auch hier zwei Eisentore – eines auf katholischer Seite und eines auf protestantischer Seite. Sie sind für den Straßenverkehr geöffnet, werden aber jeden Abend um halb sieben geschlossen. Dazwischen liegt eine rund 50 Meter breite Pufferzone und ein verfallenes Fabrikgebäude: »Hier war das Hauptquartier der britischen Armee in Belfast untergebracht. Als die Armee abgezogen ist, haben sie dann die Tore gebaut«, erzählt Kevin. Am Boden sind noch schwarz verkohlte Spuren von Brandsätzen auszumachen, die am vergangenen Montag hier geworfen wurden.

Gefährlich war es hier schon immer. Am 5. Juli 1992 wurde an diesem Interface der Katholik Kieran Abram von Loyalisten erschlagen. In den vergangenen Monaten haben die Spannungen wieder zugenommen: »Was letzten Montag passiert ist, habe ich hier seit 20 Jahren nicht mehr erlebt. Sonst sind die Ausschreitungen immer oben am Lanark Way, aber nun weiten sie sich immer mehr in Richtung Stadtzentrum aus«, berichtet Kevin. »Es ist Juli, da ist es immer besonders schlimm, aber dieses Jahr ist es viel intensiver.«

Am 12. Juli ist in Nordirland der Höhepunkt der »Marschsaison«. An diesem Tag marschieren zehntausende Mitglieder des anti-katholischen Oranierordens und Blaskapellen mit paramilitärischen Symbolen entlang katholischer Wohnviertel. Erinnert wird an den Sieg des protestantischen Thronanwärters Wilhelm von Oranien über seinen katholischen Widersacher Jakob II. in der Schlacht an der Boyne 1690. »Dann werden immer Sachen über die Mauern geworfen: Flaschen, Steine, Feuerwerkskörper, Molotowcocktails und manchmal auch Sprengsätze«, beschreibt Kevin die Situation.

Die sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle bei solchen Randalen, dort verabreden sich die Jugendlichen dazu. Laut einem der Sozialarbeiter, der an den Interfaces arbeitet, war auch der Zusammenstoß vom Montag so geplant worden.

Im April des vergangenen Jahres war es am anderen Ende der Mauer zu den schwersten Zusammenstößen seit einem Jahrzehnt gekommen. Damals berichtete die Journalistin Allison Morris, dass Jugendliche von Fake-Accounts aufgefordert worden waren, zum Lanark Way zu kommen und ihre Wohngegend »zu verteidigen«. Ein Tor verbindet hier die Falls Road mit der Shankill Road. Hunderte Jugendliche hatten von der Shankill Road kommend das katholische Gebiet angegriffen. Die Bilder von Vermummten, brennenden Bussen und fliegenden Molotowcocktails gingen um die Welt. Dutzende protestantische Jugendliche wurden verhaftet – manche waren erst 12 Jahre alt. Sie sollen von der Loyalistenmiliz UVF angestachelt worden sein, die seit dem Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags Druck auf die britische Regierung ausüben will, damit diese den Sonderstatus für Nordirland beendet.

Bereits im 19. Jahrhundert starben Menschen bei Ausschreitungen im Gebiet des heutigen Lanark Way – damals noch Brick Fields genannt. Nach der verheerenden Hungersnot in den 1840er Jahren kamen tausende Katholiken vom Land in das protestantische Belfast. Von 1857 bis 1872 gab es die ersten schweren Zusammenstöße mit den Protestanten. Und als 1886 im britischen Parlament in Westminster über die von irischen Nationalisten geforderte Selbstverwaltung der Insel debattiert wurde, kam es zu Krawallen mit 60 Toten.

Im Juli 1969 griff ein loyalistischer Mob aus der Shankill Road die katholischen Straßenzüge Bombay Street und Conway Street an, vertrieb Anwohner und setzte Häuser in Brand. Daraufhin wurde die britische Armee in die Provinz entsandt und der Nordirlandkonflikt begann. Im selben Jahr wurde mit dem Bau der ersten Barriere in Belfast begonnen. Die heute 6 Meter hohe Betonwand entlang des Cupar Way wurde ab 1988 errichtet. Auf katholischer Seite schmiegt sich das republikanische Denkmal für die Vertriebenen aus der Bombay Street an die Mauer.

Ein Krisenherd ist das Gebiet geblieben. Ausgerechnet hier veranstaltet der protestantische Orangenorden seine jährliche WhiterockParade am 12. Juli. Sie führt von einem Tor zum nächsten und für ein paar hundert Meter die katholische Springfield Road entlang. Nur für dieses Ereignis wird einmal im Jahr das Tor an der Workman Avenue geöffnet. Das am Lanark Way ist dafür an jedem Tag passierbar – es bleibt auch länger offen als alle anderen derartigen Tore in Belfast. Bis 22.30 Uhr können Fahrzeuge das Tor passieren. Der Grund dafür ist das Royal Victoria Hospital: Der Lanark Way ist die einzige Durchfahrt für Rettungswagen von Nordbelfast zum Krankenhaus an der Falls Road. Ist der Lanark Way geschlossen, müssen sich die Fahrzeuge mühsam durch das Stadtzentrum quälen. Die längeren Öffnungszeiten nutzen Loyalisten zunehmend aus, um von dort aus Angriffe auf das katholische Wohngebiet zu starten.

Michael lebt seit 20 Jahren auf der katholischen Seite gegenüber dem Lanark Way. »Damals, als das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wurde, glaubten alle, dass nun Frieden kommt. Doch die Ausschreitungen nahmen danach zu und die Friedensmauer wurde erhöht und verlängert«, erzählt der 48-Jährige. Die Präsenz von Spezialeinheiten der Polizei sei hier sehr hoch. »Die kommen mit Wasserwerfern und sind sehr aggressiv, auch gegen uns und unsere Kinder. Letztes Jahr war es besonders schlimm, weil die Jugendlichen wegen des Brexits von den unionistischen Politikern aufgestachelt wurden.«

Auch am Lanark Way gab es in den vergangenen Tagen wieder Zusammenstöße zwischen Jugendlichen von beiden Seiten, berichtet Michael. »Niemand von hier will diese Unruhen haben«, betont er. »Katholische Jugendliche aus anderen Stadtteilen koordinieren sich auf Facebook und kommen her, wenn es Ärger mit den Loyalisten gibt. Wenn alles vorbei ist, gehen sie wieder heim. Von den Jugendlichen, die hier leben, ist niemand beteiligt.«

Katholische und protestantische Jugendliche, die sich über soziale Netzwerke zu Ausschreitungen an den Interfaces verabreden, werden von Neil Jarman von der Queen’s University Belfast als »Freizeitrandalierer« bezeichnet. Der in Belfast lebende Buchautor Liam O’Ruairc betont: »Ich sehe dahinter keine große politische Motivation. Das ist keine soziale Bewegung, sondern sind Leute, die Raufereien im Internet ausmachen.«

Es besteht allerdings die Gefahr, dass die regelmäßigen und sich ausweitenden Zusammenstöße nur Vorboten größerer Konflikte sind. Militante Elemente wollen sie für ihre Zwecke ausnutzen. Im Gespräch mit »nd« berichtet ein Mitglied der republikanischen Milizen: »Über einen Kontakt auf der loyalistischen Seite erfuhren wir, dass die UVF den Jugendlichen für die Ausschreitungen am 12. Juli Waffen geben wollte, damit sie auf Katholiken schießen. Unsere Leute waren daher bewaffnet in der Gegend, um dies zu verhindern.«

Dass solche von den Loyalisten geplanten Aktionen um den diesjährigen 12. Juli nicht durchgeführt wurden, lag wohl an der Verhaftung des UVF-Kommandanten von Westbelfast, Winston Irvine. Am 8. Juli waren in seinem Auto Waffen und Munition gefunden worden. Es wird vermutet, dass seiner Freilassung eine Abmachung mit der Polizei voranging, die Randale abzusagen.

Der Brexit, die Debatten nach Wahlsiegen der republikanischen Sinn Féin über eine Wiedervereinigung Irlands, Teuerung und wachsende Armut stellen den fragilen Frieden in Nordirland auf die Probe. Der Lanark Way ist wie im Juli 1969 ein Pulverfass. Währenddessen gehen die Freizeitrandale weiter. Auf Twitter schrieb der republikanische Aktivist Dan Murphy vor wenigen Tagen: »Auch heute bin ich wieder am Lanark Way, wo es zu sporadischen Zusammenstößen kommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das aus dem Ruder läuft. Gestern habe ich einen Jungen mit einer Machete gesehen.«

Die »heißen« Nächte entlang der Belfaster Interfaces stimmen auch die Anwohner dort zunehmend pessimistisch. Kevin meint: »Die Politiker reden davon, dass in fünf Jahren alle Friedensmauern weg sein werden. Doch solange die Situation so ist, wollen alle, die hier leben, dass sie bleiben.«

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