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Weiden in den Eingeweiden
Was ist ein Shitstorm? Wie funktionieren diskursive Kläranlagen? Die Phänomenologie des Netzes
Den Begriff »Shitstorm« hätte man gar nicht erfinden müssen, würde man das Wort »Posting« nur richtig abteilen: Postings sind POstings. Denn zweifellos, im Arsch sind die meisten Absonderungen, die man unter dieser Rubrik lesen kann. Und aus dem Arsch kommen sie auch. Der Unterschied zu früher ist allerdings der, dass sie einst dort verblieben oder nur privatim an stillen Orten Erleichterung verschafften. Jetzt jedoch sind die Schleusen offen, dank Netz ist jeder Dreck publizierbar. Die implementierte Kommentarfunktion entwickelte sich nicht zum interaktiven Durchbruch, sondern zum introspektiven Durchfall. Postings ähneln einem vollzogenen Stuhlgang.
Bereit zum Gefecht, sitzen die Kampfposter an ihren Geräten. Gierig fressen sie rein, und eilig scheißen sie raus. Das Aufgestaute wird abgelassen, ist es draußen, ist man erlöst. Was als Demokratisierung der Debatten propagiert wurde, entpuppt sich oft als mentales Fiasko der beteiligten Gemüter. Evil minds. Es ist das Weiden in den Eingeweiden, das sich hier Öffentlichkeit verschafft. Es sind Ausflüsse von Unlust und Unmut, nicht Ermächtigungen des Denkens. Nicht um kognitive Gewinne geht es, sondern um Dickdarmbewirtschaftung. Das meiste ist Kacke.
Es wird hier aber nicht gegen die Normalität verstoßen. Wogegen verstoßen wird, das sind die normierten Benimmregeln der zivilen Oberfläche. Im Schutz der Anonymität setzen unsere Poster ihr Innerstes frei, ein Innerstes, von dem wir bisher annehmen sollten, dass es nicht sei, wie es ist. Innerung und Äußerung sind kohärent. Der logische Zwang ist fast biologisch. Die organische Zusammensetzung der uns bekannten Ignoranz ist kein individuelles Manko, sondern Konsequenz gesellschaftlicher Verhältnisse. Individuell ist maximal ihre Ausprägung, keineswegs ihre Prägung. Die neuen Medien verrohen nicht, sie legen das Derbe, das Garstige, das Grausliche nur offen. Nicht das Sagbare verschiebt sich, die virtuellen Welten bringen es vielmehr zum Auftauchen. Was bisher Stammtische nur in Form von Gerüchten verließ, hat nun den Weg zu einer sich selbst multiplizierenden Öffentlichkeit gefunden. Der mediale Rayon dehnt sich durch das Netz ins Unendliche aus.
Der Charakter der Begegnung im virtuellen Raum unterscheidet sich fundamental von einem persönlichen Treffen, weil das leibhaftige Gegenüber fehlt. Nie war es so einfach, sich jeder Empathie zu entziehen wie im digitalen Zeitalter. Durch Postings kommt der Hass nicht in die Gesellschaft, sondern er tritt förmlich aus ihr aus. Sie vermitteln nichts, was nicht schon Unsitte ist. Der Hass ist nicht im Netz entstanden, sondern ins Netz gegangen. Das Netz entblößt alles. Gerade aufgrund der Ultratransparenz ist es ein Boden, auf dem das Wutbürgertum gedeihen kann. Der Hass ist somit keine Verirrung Einzelner, sondern Fazit kapitalistisch-konkurrenzistischer Drangsalierung. Der Hass ist also dort zu Hause, er agiert in seinem Eigenheim. Was früher aber mehr latent war, gebärdet sich nun militant. Es dominiert eine Mentalität des virtuellen Totschlags. Aus Herde wird Horde.
Brunzbolde und Kackestierler erzeugen indes ein Kotmeer an Ignoranz, das keine Ufer kennt. In der schieren Menge liegt die Potenz der Quälgeister. Kommt jemand blöd daher, wird schnell bewiesen, dass es noch blöder geht. Es gibt so etwas wie die Tendenz zur permanenten Eskalation. Das Kontinuum wäre als ein Komparativ der Auffälligkeiten zu beschreiben, als sich gegenseitig aufschaukelnde Obskuranz. Stets muss man nachlegen. Natürlich mögen sich gelegentlich spannende und hellsichtige Statements finden. Aber es sind Perlen, die in der Kacke stecken, somit ebenfalls nicht unbedingt attraktiv.
Bei den Postern sind Artige und Unartige zu unterscheiden, wenngleich auch letztere nicht aus der Art schlagen, sondern diese bloß übertreiben. Zu den Artigen gehören die Bemühten, die Biederen, die Besserwisser, die gleich Musterschülern vortragen, was von ihnen erwartet wird, und anzeigen, dass sie die medial frisierte Staatsbürgerkunde intus haben. Allzuoft geht es um das schlichte Wiederholen des Leitvokabulars und der Stehsätze. An den Phrasen erkennt man den Grad der Affirmation. Sie sagen, was man zu sagen hat. Zu den Unartigen gehören die Stänkerer, die Über- und Untergriffigen, die Maul- und Arschaufreißer. Resultate ihres Handelns sind Diskreditierung und Beschädigung, selbst wenn das gar nicht das Ziel gewesen sein mag. Auch sie sind weniger abseitig als gemeinhin angenommen. Ihre Freude, die eine Schadenfreude ist, rührt aus der Verletzung selbst. Die Handlung befriedigt. Das Ergebnis ist nichts gegen die Tat. Sie fühlen sich besser, ohne dass eine Besserung in Sicht wäre.
Anmache und Belästigung
Wut ist spontan, Kritik ist elaboriert. Solche Fundierungen kann ein Posting schon aufgrund der temporalen Vorgaben nicht bewerkstelligen. Postings kennen in der Regel keine Korrektur. Sie flutschen raus in »Echtzeit«. Sie sind authentisch wie ein Furz. Die Form erlaubt nur den schnellen Schuss. Unsere Poster müssen rasch hochfahren und flugs hochladen, wollen sie zugegen und dabei sein. Die kursiv gesetzten Verben sind nicht zufällig Teil der digitalen Sprache. Rufen wir uns als Kontrast den klassischen Leserbrief in Erinnerung: Er musste überlegt und geschrieben, getippt und gedruckt, korrigiert, kopiert, kuvertiert, adressiert, frankiert, expediert und transportiert werden. Die Antwort musste sodann vom anvisierten Medium akzeptiert und publiziert werden, um überhaupt Mitlesende zuzulassen. Der Leserbrief war also eine ernste Angelegenheit, verbunden mit einigem Aufwand. Eine Mitteilung musste einem ziemlich wichtig sein. Postings hingegen sind beiläufig, und in dieser Läufigkeit pflanzen sie sich auch fort. Sie sind die Verschriftlichung der ersten Erregung. Es herrscht eine galoppierende Dringlichkeit. Ärgern. Tippen. Senden.
Früher war vieles behäbig. Heute hingegen geht alles hurtig über die Bühne, sofort befähigt eins sich zur Antwort: Jede Erregung ist im Netz nachlesbar, so als sei die Sozialisierung derselben mittlerweile das Selbstverständlichste auf der Welt. Freilich ist auch die Frage zu stellen, warum gerade die Erregung und mit ihr die Wut solch steile Karrieren hinlegen konnten? Was macht sie aus? Woher rührt dieser Drang? Was ist sein Trieb, nicht nur Austrieb, sondern Antrieb? Was stachelt das Subjekt an, dass es stichelt? Warum produziert der gemeine Menschenverstand so viel Müll? Oder liefert er nur, was ihm geliefert wird? Es geht also nicht bloß darum, das Benehmen zu beklagen, sondern dieses Verhalten als Folge adäquater Weltprojektion zu betrachten und auch zu benennen. Diese mag falsch sein, aber sie ist wirkmächtig, konstitutioneller Teil des hegemonialen Gefüges. Wir haben es hier also mit einer Fügung zu tun, nicht mit einer Schwäche der Subjekte.
Der terminologischen Irrfahrten sind gar viele. Die Sprache ist nicht die Kreation der Sprecher, die Sprecher sind Kreaturen der Sprache. Der Einwand darf also nicht nur lauten, dass sich das nicht gehört, sondern müsste auch erkennen, dass sie sich nicht gehören. Das Netz ist geradewegs so disponiert, dass es derlei Verhalten evoziert. Der postende Provokateur ist zwar ein armer Hund, aber außergewöhnlich lästig, er bellt laut und ist ausgesprochen bissig. Überlastete Empfänger werden zu belästigenden Sendern. Wir sprechen übrigens primär von einem männlichen Phänomen in einer patriarchalen Welt. Poster sind meist keine Posterinnen.
Hierarchie wird abgeschafft, indem das Hauen und Stechen verallgemeinert wird. Knechte werden zu Herren. Zumindest glauben sie das. Nicht nur die neuen Medien lechzen und gieren nach diesem Umgangston, er ist es auch, den viele gewohnt sind. Ihr gesellschaftlicher Alltag lehrt das, doch nun bietet das Netz ihnen die Chance, diesen Ton selbst und vor allem vernehmbar zu intonieren. Nicht nur gewatscht zu werden, sondern auch zu watschen. Wow! Nicht nur zurechtgewiesen zu werden, sondern zurechtzuweisen; nicht nur zu gehorchen, sondern auch zu befehlen. Durchziehen! Stärke zeigen!! Eins in die Fresse!!! Endlich!!!!
Aufmerksamkeit und Verschmutzung
Wir spuren, wie wir spüren, aber wir spüren nicht, dass wir spuren. Das ganze Leben verläuft auf der schrägen Ebene von Bewerbung und Bewertung. Auch Politik insgesamt vollzieht sich schon des Längeren nach diesen Gesetzen, das Publikum ist regelrecht abgerichtet, so und nicht anders zu reagieren. Der Schmutz ist kein Dreck, der da die freie Gesellschaft verunreinigt, dieser lose fliegende Lurch ist vielmehr Teil unserer Vergesellschaftung, also ein spezifisch durch Konkurrenz bedingter Staub, der vom Netz gleich einem Staubsauger eingesogen und konzentriert wird. Das Netz ist nicht schmutziger als die Gesellschaft. Aber dieser Schmutz fällt leichter auf, weil er in dieser riesigen Sondermülldeponie, zu der noch dazu alle Zugang haben, wild abgeladen werden kann. Das Netz ist ein verzweigtes Kanalsystem, wo alle ihre geistigen und mentalen Beschädigungen ungefiltert einleiten dürfen, sofern sie über bescheidene technische Fähigkeiten verfügen. Das Netz liefert hier fast unumschränkte Möglichkeiten. Hasspostings sind nur die Speerspitze. Diese Destruktivität ist weniger Absicht und Wille als Resultat. Geschlagene schlagen.
Die Aufmerksamkeitskontingente der potenziellen Kunden sind beschränkt, was aber wiederum nur heißt, dass im Kampf um Beachtung die allseitige Reklame noch gerissener, noch rücksichtsloser, noch schamloser verfahren muss, wenn sie ankommen will. It’s time for stalking! Will man dort Raum okkupieren (und sei’s für Sekunden), dann sind Brachialität und Brutalität fast unumgänglich, weil zweckdienlich. So finden im Netz multipel geschädigte Subjekte ihre adäquaten Rahmenbedingungen. Ganz ausgezeichnet passen sie zueinander. Andauernd sollen wir auf etwas heiß sein. Doch diese Erhitzung ist keine bloß akute, sondern führt zunehmend zur chronischen Überhitzung, die kaum noch auszuhalten ist. Sie kann weder aufgehalten noch angehalten werden. Sie gleicht mehr einer dauerhaften Entzündung als einer sporadischen Verbrennung. Kein Appell an die soziale Selbstkontrolle wird daran etwas ändern. Kein Beißkorb und kein Kondom wird helfen.
Der Druck zur Aufdringlichkeit wird allmächtig. Wer auffallen möchte, muss erschrecken. Jeder Troll spürt das. Aufmerksamkeit erfolgt via Aufschreckung. Das Gediegene und Reflektierte fällt nicht auf. Gerade weil es etwas zu sagen hätte, versagt es. Anschlussfähigkeit ist nicht gegeben. Gibt es etwas Faderes als eine Analyse? Im Kapitalismus ist Aufmerksamkeit kaum ohne Anmache zu denken. Sie ist mehr die Frage einer Attraktion als die eines Interesses. Verhältnisse sind als Fälle zu sensationieren. Nicht nur dort, aber insbesondere in den digitalen Szenen der eben falsch benannten »sozialen Medien« geht es in erster Linie um »negative campaigning«. Und zwar ganz ohne Regie und ganz ohne Verschwörung. Das Drehbuch montiert sich quasi durch die Stegreifauftritte der Selbstbestimmten. Die Spieler werden nicht aufgeführt, sie führen sich selbst auf. Poster kapieren, wie sie zu spuren haben, auch wenn sie gar nicht wissen, dass sie spuren. Sie brauchen es auch nicht zu wissen. Routine reicht, um den Mechanismus in Gang zu halten. Jedes Erkennen der Funktion würde diese und jenen beeinträchtigen. Es herrscht der serielle Reflex. Es geht um das Funktionieren, nicht um die Funktion.
Unsere digitale Konditionierung schuldet sich dem unausweichlichen Dienst an den Geräten. Diverse Games etwa fungierten als rege Scouts der digitalen Okkupation, als eine Art Ausbildungslager. Bei den meisten Computerspielen wird etwas abgeschossen. Sie entsprechen den Richtlinien und Bedingungen der Ökonomie, ihr Modus ist die Konkurrenz. Es geht um Sieg oder Niederlage, um Durchsetzung oder Ausschluss. Das Ziel besteht darin, zu eliminieren und zu liquidieren. Derlei Übung färbt ab, sie konsolidiert unseren Weltbezug, indem sie ihn immer wieder füttert. Konditionierung meint Kommodifizierung. Sie bringt uns in Form, macht uns fit, wir erledigen unsere Hausaufgaben, ohne diese als solche wahrzunehmen. Dieses Mindframing ist hochgradig synthetisch. It’s learning by doing. Wenn die gewünschten Ergebnisse sich von selbst liefern, braucht es kaum gesonderte Programme. Hochgerüstet sind wir, was das Wie der Betätigung, armselig sind wir, was die Frage nach dem Was oder gar dem Warum angeht. Das geht uns auch nichts an.
Virtuelle Unwesen
User sind Anwender, nicht Verwender. Dafür sorgt die maschinelle Konfiguration, die Programmierung. Diese bezieht sich nicht nur auf die Geräte, sondern insbesondere auch auf die sie Bedienenden. Das Verhältnis Mensch-Technik hat durch die Apparaturen eine noch entschiedenere Umkehrung der Aneignung hervorgebracht. Der Terminus User ist daher ein ideologisch aufgeladener Fehlbegriff, weil er diesen Zusammenhang nicht beschreibt, sondern forsch etwas anderes behauptet. Inzwischen kann man bestimmte Dinge ja nicht einmal mehr ausschalten. Immer mehr Angelegenheiten sind nicht nur auch digital zu erledigen, zunehmend sind sie nur noch digital zu erledigen. Das Digitale wird allgegenwärtig, jede Flucht erscheint geradezu hilflos, jede Weigerung sinnlos. Ohne App bist du ein Depp. Das Geschaffene verfügt uns. Im Netz sind die Menschen nicht miteinander verbunden, sondern aneinander gebunden. Nicht »Sie können sich treffen« ist die Maxime, sondern: »Sie haben sich zu treffen.« Kommunikation über diese Medien wird zur Pflicht. Man nimmt sich gegenseitig in Beschlag.
Unsere User hingegen meinen in der großen weiten Welt, dem World Wide Web, angekommen zu sein, wo alles schneller und einfacher gehen soll. Dafür opfern sie bereitwillig ihre letzten Refugien, indem sie Hardware und Software in ihr Innerstes lassen. Was uns als Ware und Leistung entgegentritt, bedienen wir. Wir sind für sie da. Sie haben uns. Wir dienen. Behausung und Gemüt stehen sperrangelweit offen. Mit anästhetischer Sicherheit wird Intimität zusehends für obsolet geklärt. Nicht User erobern, sie werden erobert. Nicht sie eignen sich etwas an, sie werden angeeignet, und je geeigneter sie das tun, desto eigener werden sie auch. Timo Daum behauptet sogar: »Die User hingegen sind das eigentlich Proletariat in den digitalen Fabriken des Plattform-Kapitalismus. Big Data ist nichts als eine automatische Datenfarm, auf der das Kapital verwertbare Information ernten kann wie der Imker Honig. Die emsigen Bienen allerdings, das sind im digitalen Kapitalismus nicht mehr die Arbeiter am Fließband, sondern die User, also die Konsumenten, die Einzelnen, direkt an die Wissen-zu-Kapitaltransformationsmaschine Angeschlossenen. Die Userarbeit auf den Plattformen unterscheidet nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit, öffentlich und privat, Tag und Nacht: Das ganze Leben wird vom Kapital direkt verwertet, der Produktionsprozess beschränkt sich nicht mehr auf die Fabrik. Die digitale Bohème hat es vorgemacht. Das Konzept Arbeit diffundiert in andere Lebensbereiche hinein, direkte Arbeit wird im Produktionsprozess immer unwichtiger.«
Wir werden in Serie geschaltet. Die Konsequenz sind amalgamierte und automatisierte Exponate. Der eigenartige Charakter der Beziehung ist maschinell produziert, er setzt normierte Regulative durch. Menschen werden in einem zweiten Durchgang industrieller Verdinglichung nicht nur zu Dingen unter Dingen, sie werden zu Maschinen unter Maschinen, zu Cyborgs. Und das Netz, das ein Spinnennetz ist, kann uns nicht dicht genug sein, weil wir letztlich mehr Angst haben, rauszufallen als dazuzugehören. Je enger die Maschen gezogen werden, je schneller wir von einem virtuellen Punkt zum anderen flitzen, desto größer wird die Gefahr, sich restlos zu verheddern, ganz im virtuellen Raum zu verschwinden und sich sinnliche Potenzen zu amputieren. Wo wir uns gerade befinden, ist schwierig zu beantworten, haben wir doch überall zu sein. Wer überall ist, ist nicht da, sondern bestenfalls irgendwo. Irgendwo ist nirgendwo.
User tun, was sie nicht unterlassen können. Statt runterzukommen, fahren sie regelmäßig hoch. Verschlossene Exemplare öffnen sich. Was dabei passiert, ist nachlesbar. Leute mit psychischen Problemen – wogegen nichts zu sagen wäre – wollen anderen Leuten ebenfalls psychische Probleme bereiten – wogegen allerdings viel zu sagen ist. Es herrscht eine dumpfe und dunkle Aufregung, eine »unproduktive Empörung« (Karl Kraus). Was rauskommt, hilft niemandem. In den Kommentaren werden Texte kontaminiert, sie geraten tatsächlich in eine »diskursive Kläranlage«, doch nicht im Sinne von Jürgen Habermas, von dem der Ausdruck stammt. Denn diese Kläranlage klärt nicht, sie funktioniert invers, sie reinigt nicht, sie verunreinigt. Sie führt Denken nicht in lichte Höhen, sondern in dunkle Kanäle. Kanal-Muppets begleiten fortan diesen Prozess. Was als einzelne Meldung eine äußerst begrenzte Reichweite hätte, wächst aufgrund von Kopien, Verlinkungen, Kommentaren und Kommentaren zu Kommentaren zu einer beträchtlichen Masse Abfall. Der ebenfalls von Kraus stammende Begriff der »Kotmeere« ist heute zutreffender als vor hundert Jahren. Kleine Nichtse werden bedeutend, daher tummeln (und wiederum in doppeltem Wortsinn) sie sich so ungemein. Jetzt aber! Sofort!! Gemma!!! Ab die Post!!!!
Friends and Likes
Likes dokumentieren vorerst Resonanz ohne Relevanz, sie sind das monotone Monitoring einer »wechselseitigen Observanz« (Steffen Mau). Einmal mehr sind wir wieder im Bewertungswahn gelandet. Zahlen treten auf als Verkaufsschlager. Wer hat die meisten Follower, wer wie viele Friends? Wachstum ist das Ziel. Wer sich diesem Modus beugt, verspürt Hunger und verlangt nach Sättigung, ohne je satt zu werden. Schwärme bilden sich schnell, lösen sich aber auch schnell wieder auf. Alles scheint volatil geworden zu sein. Je größer die Eskorte, desto besser Anliegen und Anleger. Gleich dem Aktionär geht es ihnen um Börsenkurse von Gefälligkeiten in einer Aufmerksamkeitsökonomie der Herostraten. Freilich quellen diverse Kanäle bereits über.
Friends haben mit Freunden nichts zu tun. Follower, das klingt dezidiert nach Gefolgschaft. Tatsächlich ist der Fan nicht viel besser als der Troll. Vom Typus her gleicht der Troll einem enttäuschten Fan, der mit seiner Enttäuschung nicht zurechtkommt und sie nunmehr im Netz zu verarbeiten sucht. Feindseligkeit wird gezüchtet. Inwieweit diese in Feindschaft umschlägt, ist offen, Freundlichkeit und Respekt sind jedenfalls selten. Das auf Zustimmung oder Ablehnung dressierte Netz ist weitgehend schattierungsfrei. Ablehnung bedeutet Aversion, Zustimmung Konversion. Dazwischen klafft eine immense Leere. Auch wenn das nicht stimmen kann, kommt es so rüber und weil es so rüberkommt, ist es zumindest stimmig, vor allem auch laut. Es regiert eine binäre Dürftigkeit.
Die strikt dezisionistische Gefällt-Mir-Unkultur erlaubt nur eine Entscheidungsfrage, die einfach Ja oder Nein vorgibt. Auf komplexe Fragen differenzierte Antworten zu geben, ist ihre Sache nicht. Derlei ist in ihrem Repertoire nicht vorgesehen. Tickets werden zugewiesen. Klassifizierung und Typisierung okkupieren das Terrain. Ihre Kraft ist Folge der Quantität, man sollte dieses dumpfe Gewicht nicht Vermögen nennen, aber es ist zweifellos eine Belastung oder deutlicher noch eine ständige Belästigung. Dadurch, dass nur Attraktion und Repulsion zugelassen sind, können Analyse und Kritik nicht greifen. Da sie Spielverderber wären, sind ihre Zugänge gesperrt. Dafür regieren oft Fangfragen, Marke: Bist du für oder gegen Gewalt? Bist du für oder gegen die EU? Bist du für oder gegen die Sterbehilfe? Bist du für oder gegen Putin? Solche Fragen sind Beleidigungen des Geistes. In diesem Verfahren dreht sich alles ums Pushen oder Canceln. Gehobene und gesenkte Daumen in diversen Online-Foren erinnern an ihre Vorbilder in der antiken Arena.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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