Klimadrama am »dritten Pol« der Erde

Die Gletscherschmelze im höchsten Gebirge der Erde bedroht die Wasserversorgung weiter Teile Asiens

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Objekt der wissenschaftlichen Begierde Walter Immerzeels sind die Zusammenhänge von Gletscherökologie, Hydrologie und Klimawandel im sogenannten High-Mountain Asia (HMA). Damit gemeint sind Himalaja, Hindukusch und Karakorum. Die klangvollen Namen lassen Bilder von tibetischen Gebetsfahnen, wagemutigen Bergsteigern und dem sagenhaften Schneemenschen Yeti vor dem inneren Auge entstehen.

»Der Lieblingsaspekt meiner Forschung ist die Arbeit vor Ort. Ich weiß, das Verfassen von Papieren und der Besuch von Konferenzen ist sehr wichtig. Aber das Gefühl, das man bekommt, wenn man die Bergpässe hinaufklettert und versucht zu verstehen, was man sieht, ist unübertrefflich«, sagt Immerzeel über seine Arbeit. »Wenn eine Region der Welt für diese Forschung relevant ist, dann ist es der Himalaja, weil Hunderte Millionen Menschen entlang der Flüsse aus dem Himalaja leben und von dem Wasser abhängig sind, das aus den Bergen kommt«, betont der Gebirgshydrologe von der Universität Utrecht, der sich derzeit ein Sabbatical gönnt.

Weltweit steigende Temperaturen lassen Gletscher des HMA schmelzen, allmählich fließt immer mehr Wasser im Indus, Ganges und Brahmaputra hinab. Langfristig ist der Verlust dieser Süßwasserreserven eine Bedrohung für die Menschen, die vom Wasser dieser Flüsse abhängen. Kurzfristig sind es Lawinen, Gletscherstürze und Flutwellen aus Gletscherseen. Mit mehr als 7000 Gletschern hat Pakistan mehr Eisschilde als jedes andere Land der Welt. Insgesamt ist die Region des HMA der größte Speicher von Eis und Schnee außerhalb der Polarregionen. Deshalb spricht man von HMA auch als dem »dritten Pol«.

Steigende Temperaturen lassen die Gletscher rapide schmelzen und Tausende Gletscherseen entstehen. Die Behörden Pakistans befürchten, dass bei 33 dieser Seen die Gefahr besteht, dass ihre Ufer brechen und sich Millionen Kubikmeter Wasser und Geröll die Berghänge hinab ergießen, also als eine Art Gletschersee-Tsunami Tod und Verderben bringen.

Mindestens 16 solcher Katastrophen, gut dreimal so viele wie in früheren Jahren, wurden in diesem Jahr in Pakistan schon registriert. Experten führen das auf die Hitzewelle mit Temperaturen zwischen 40 und 50 Grad Celsius zurück, die die Region zwischen Bangladesch und Pakistan derzeit im Griff hat. Mit seinen rund 220 Millionen Einwohnern ist Pakistan unter den zehn Ländern, die weltweit am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, obwohl es nur ein Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoss beiträgt.

Gletscher sind, einfach ausgedrückt, Speicher, die in den Regen- und Schneezeiten die Niederschläge gefrieren lassen und sie in der wärmeren Trockenzeit teilweise freigeben, damit die Flüsse speisen und so Landwirtschaft sowie Wasserkraftwerke ermöglichen. Dieses System aber gerät zunehmend durch den Klimawandel aus seinem natürlichen Rhythmus.

Allzuviel ist wissenschaftlich über die Zusammenhänge von Gletschern, Niederschlägen, Wasserhaushalt in HMA und Klima aber noch nicht bekannt. Das bisher herrschende wissenschaftliche Desinteresse schmilzt aber gerade so schnell dahin wie die Gletscher. Es habe im letzten Jahrzehnt geradezu »eine Forschungsexplosion« in der Region gegeben, freut sich Immerzeel.

Eines dieser Forschungsprojekte zur »hydrologischen Risikoprävention« gegen Auswirkungen des Klimawandels auf die Gletscher der Region Gilgit-Baltistan in Pakistan wurde Anfang dieses Jahres von der Entwicklungshilfeorganisation der Uno gestartet. Gletscher bleiben aufgrund mangelnder Kapazitäten, Technologie und Zugänglichkeit die am wenigsten überwachten Ressourcen in Gilgit-Baltistan. Fehlende Informationen über Gletscherveränderungen erschwerten die Vorhersage von Gefahren, die von diesen Veränderungen ausgingen, heißt es in der Beschreibung des von Italien und der EU finanzierten Projekts. Viele dieser Gebiete in HMA sind allerdings Schauplätze von Konflikten: das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet und Kaschmir, wo Gilgit-Baltistan liegt.

Francesca Pellicciotti von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat ihr neues Forschungsvorhaben »High-elevation precipitation in High-Mountain Asia« getauft, abgekürzt »Hope« – Hoffnung. »Dieses Projekt kombiniert In-situ-Daten von Gletschermassenbilanzen und hydrologischen Modellen, um Hochgebirgsniederschläge im Hochgebirge Asiens zu rekonstruieren, die Menge, Saisonalität und Variabilität von Niederschlägen in ausgewählten Einzugsgebieten zu untersuchen und die Mechanismen zu bestimmen, die diese Eigenschaften verursachen oder verändern«, sagt die Expertin für Gletscher und Gebirgshydrologie auf ihrer Webseite.

Nicht jede Flocke bleibt liegen, schmilzt irgendwann und fließt als lebensspendendes Wasser flussabwärts in die Ebenen des indischen Subkontinents. Lange rätselten Hydrologen, auf welche Weise große Schneemengen aus dem System verschwinden konnten, sodass sich die gesamte Wassermenge in HMA nicht genau bestimmen ließ. Mit moderner Technik konnten Immerzeel und sein interdisziplinäres Team das Rätsel lösen: Eine Kombination extremer Bedingungen, so die Utrechter Forscher, aus großer Trockenheit, intensiver Sonneneinstrahlung und Stürmen mit Hurrikanstärke lasse einen Teil von Schnee und Eis direkt verdampfen.

Zum Schluss noch ein paar Zahlen zur Verdeutlichung des Ausmaßes der wissenschaftlich lange vernachlässigten asiatischen Hochgebirgswelt: Die Gletscher mit etwa 5000 Gigatonnen Eis bedecken insgesamt eine Fläche von fast 100 000 Quadratkilometern. Laut Immerzeel entspricht das zwei Milliarden olympischer Schwimmbecken voller Eis.

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