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Kleine Preise in Hohenstücken
Der Stadtteilbeirat bemüht sich um Integration – und einen Wochenmarkt
Etwa 7000 der 73 000 Einwohner von Brandenburg/Havel leben heute in Hohenstücken. Der Stadtteil wurde vor fast genau 50 Jahren gegründet. Einige der Plattenbaublöcke präsentieren sich noch mit ihren ursprünglichen Fassaden, andere sind saniert. Hier zogen einst die Familien der Stahlwerker ein, als die ältere Walzwerksiedlung für die Belegschaft zu klein wurde. Inzwischen ist Hohenstücken Heimat für viele, die sich anderswo in der Stadt die Miete nicht leisten könnten. Rund 2500 Bewohner mit Migrationshintergrund gehören dazu, unter ihnen rund 700 ukrainische Kriegsflüchtlinge.
Diese Zahlen nennt am Montag Christin Willnat. Sie ist Russisch-Dolmetscherin und Vorsitzende des Stadtteilbeirats. Sie versucht den Neuankömmlingen zu helfen, wo es geht. Ein Problem war, dass den aus dem Ausland eingetroffenen Menschen die Mülltrennung fremd war. Hier fand der Stadtteilbeirat eine einfache Lösung: An den Müllplätzen wurden in verschiedenen Sprachen abgefasste Erklärungen angebracht. Der Beirat macht sich außerdem für die Reparatur von Gehwegen oder Ampelanlagen stark und aktuell auch für die Reaktivierung eines beliebten Wochenmarktes. Der sei einst eingeschlafen, weil der Betreiber von den Händlern zuletzt zu hohe Standmieten kassieren wollte. Um die Summe wieder hereinzubekommen, hätten die Händler von ihren Kunden hohe Preise verlangen müssen – Summen, die sich in Hohenstücken wegen geringer Einkommen etliche nicht leisten können. Nun soll es einen Trödel- und Wochenmarkt geben, bei dem das anders ist.
Den Stadtteilbeirat gibt es seit zwölf Jahren. Mitmachen darf, wer selbst hier oder auf dem benachbarten Görden wohnt oder wer zumindest eine Verbindung über Angehörige hat. Bei Christin Willnat ist es der Vater, der noch in Hohenstücken lebt. Seine Tochter ist hier aufgewachsen, doch 2005 wurde ihr Block wegen des Leerstands im Viertel abgerissen. Sie wohnt jetzt im Stadtteil Plaue, hängt aber sehr an Hohenstücken und engagiert sich für das vertraute Wohngebiet. Sie wünscht sich mehr Spielraum für ihren Beirat, der leider kein Budget habe und nicht einmal Spenden annehmen dürfe. Die Landtagsabgeordnete Andrea Johlige (Linke) gibt am Montag Tipps, wie die erhoffte Mitsprache bei Entscheidungen des Stadtparlaments ins Werk gesetzt werden könnte. Um das durchzusetzen, sollte die günstige Gelegenheit vor der nächsten Kommunalwahl im Jahr 2024 genutzt werden, empfiehlt Johlige.
Am Montag und auch noch am Dienstag schaut sich die Landtagsabgeordnete in Brandenburg/Havel um, wie es hier mit der Integration läuft. Los geht es beim Interkulturellen Zentrum »Gertrud von Saldern« am Gotthardkirchplatz. Betrieben wird das Zentrum von der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft (BBAG), die hier unter anderem Deutschkurse anbietet. Fünf Kurse mit jeweils etwa 15 Teilnehmern laufen derzeit. Es waren auch schon mal zehn Kurse gleichzeitig, erzählt Bereichsleiterin Nadine Spengler. Während der Corona-Pandemie seien es weniger geworden, obwohl die BBAG sehr schnell auf Online-Unterricht umstellte. Jetzt steigen die Teilnehmerzahlen wieder – wegen der ukrainischen Flüchtlinge.
In einem Klassenraum wird gerade ein Test geschrieben, in einem anderen nimmt die Lehrerin das Perfekt durch. Die Kursteilnehmer sollen diese Zeitform in einem deutschen Text erkennen. Die Lehrerin spricht mit einem ganz leichten Akzent. Sie ist gebürtige Russin und damit keine Ausnahme. Bei der BBAG unterrichten auch andere Frauen Deutsch, für die das selbst nicht die Muttersprache ist, die aber zum Beispiel Germanistik studiert haben. Bezahlt werden die Kurse vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in einzelnen Fällen auch aus dem Landesprogramm »Deutsch für Flüchtlinge«.
Mit den Sprachkursen ist es im Interkulturellen Zentrum aber nicht getan. Es gibt weitere Projekte, etwa zu Sexualität und Familienplanung (eine brasilianische Kollegin kümmert sich darum) und seit anderthalb Jahren ein House of Ressources, ein Haus der Ressourcen also, das Flüchtlinge unterstützt, sich zu organisieren. Sieben Stellen habe er dafür, berichtet der verantwortliche Bereichsleiter Sebastian Möckel. Die Flüchtlingsselbsthilfeorganisation »Women in Exile« (Frauen im Exil) sei sehr bekannt, aber den afghanischen Kulturverein in Brandenburg/Havel kenne kaum jemand, beschreibt Möckel die Aufgabe. Mal fehle das Geld, mal die Technik, mal brauche es Beratung. Diese Ressourcen sind hier verfügbar. »Die Flüchtlinge sagen mir, was sie benötigen. Wir machen denen kein Programm«, erklärt Möckel die Herangehensweise.
»Das ist ganz wichtig, dass die Migranten selbst sagen, was sie brauchen«, lobt die Abgeordnete Johlige. »Wir können das ja nur ahnen. Wir wissen es aber nicht sicher.«
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