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Auf die harte Azubi-Tour
Franziska Giffey macht Werbung für Handwerksberufe – und muss sich unangenehmen Fragen stellen
Das Nagelbrett kommt der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) gerade recht. Mit wenigen kraftvollen Schlägen versenkt sie zwei Nägel gekonnt ins Holz und verkündet stolz über ihre Leistung: »Handwerkerkind!« Es wirkt durchaus so, als sei die kleine Vorführung für die Fotografen und Kameraleute des Pressetrosses auf dem Lehrbauhof der Fachgemeinschaft Bau in Berlin-Marienfelde am Dienstag auch eine willkommene Gelegenheit, Aggressionen abzubauen.
Denn kurz zuvor hat Betonbau-Azubi Rébian Dittrich die Politikerin mit einer zahlengespickten Suada auf den dramatischen Mangel bezahlbarer Wohnungen angesprochen. »Der Senat möchte den Bestand auf 100 000 Sozialwohnungen stabilisieren. Das ist eher ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt er. Rückblickend auf die Wohnungspolitik der 1990er und 2000er Jahre mit der Privatisierung von Hunderttausenden Einheiten sagt Dittrich: »Ich sehe beim Senat nicht wirklich das Schuldeingeständnis, wo man sagt: ›Ey sorry, wir haben den Karren an die Wand gefahren.‹« Und er formuliert noch einmal drastischer: »Wissen Sie, ob der Senat jemals sagen wird: ›Wir haben das verkackt.‹?« Immerhin, das dürfte Giffey freuen, hält Dittrich den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen nur für einen Ablenkungsversuch von den Fehlern der Vergangenheit.
Giffey verweist auf die dramatische Haushaltslage Berlins und den Leerstand aufgrund des Bevölkerungsrückgangs in den 1990er Jahren. Die Politik sei »aus heutiger Sicht nicht richtig« gewesen. »Man kann ja auch nicht alle Sachen, die in 20 Jahren gemacht wurden, in rund einem halben Jahr ändern«, sagt sie in Bezug auf ihre Verantwortlichkeit. Ein bisschen mehr als die Hälfte der Berlinerinnen und Berliner hätten Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, erklärt die Regierende Bürgermeisterin. »Und deswegen ist es sehr wichtig, dass, wenn neue Wohnungen gebaut werden, auch die Hälfte im unteren und mittleren Preissegment gebaut wird. Das haben wir im Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen vereinbart, das für eine Million Bestandswohnungen steht«, so Giffey weiter.
Unter anderem, weil laut Berliner Mieterverein vollkommen unklar ist, wie der hälftige Anteil günstigerer Wohnungen bei privaten Bauherren verbindlich vereinbart werden soll, verweigerten die Mieterlobby und Gewerkschaften ihre Unterschriften unter das Bündnis. Zumal der Mieterverein einen Anteil von 70 Prozent preisgedämpften Wohnraums im Neubau für mindestens nötig hält.
»Der entscheidende Punkt, um Wohnungen zu bauen, ist doch am Ende des Tages, dass wir Menschen haben, die es machen«, sagt Giffey, um wieder auf das Thema Ausbildung zu kommen, und räumt zu ihrem Bauziel von 20 000 Wohneinheiten jährlich ein: »Das ist in diesem Jahr sehr, sehr schwer zu erreichen, wir werden es wahrscheinlich nicht erreichen.«
880 Euro netto pro Monat verdient der angehende Betonbauer Dittrich laut eigener Aussage im zweiten Lehrjahr. »Ich kriege auch kein Wohngeld, weil meine Eltern zu viel Geld verdienen. Die Einkommensgrenze ist auch nicht sonderlich hoch«, verdeutlicht er seine Lage, bei der hohe Mieten ein echtes Problem sind. Doch immerhin hat er finanziell deutlich rosigere Zeiten vor sich. Mit rund 45 000 Euro Jahreseinkommen kann er bei seinem Arbeitgeber rechnen, sobald er ausgelernt hat. Zuvor arbeitete er in der Veranstaltungsbranche, der Job ist in der Corona-Pandemie weggebrochen. Bei seiner beruflichen Neuorientierung hatte er auch das mögliche Einkommen im Blick. Und er wollte auf jeden Fall etwas Handfestes arbeiten.
Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos, für SPD), der vor seiner Ernennung selbst einen Handwerksbetrieb führte, spricht bei dem Rundgang von einem »Beruf, der total gefragt, gut bezahlt und absolut sicher ist«. Und er sagt: »Wer etwas für die Klimawende tun will, für den Schutz der Natur, der weiß gerade im Bauhandwerk, dass er am Ende des Tages etwas Konkretes dafür getan hat. Ich glaube, das macht die Attraktivität aus.« Heutzutage und auch in den nächsten Jahren handele es sich um »absolut krisensichere« Berufe. »Das war nicht immer so.«
Mit der Tour, die den Senator und die Regierende Bürgermeisterin später noch zu einer Bäckerei und einer Gebäudetechnikfirma führt, soll Werbung für Ausbildungsberufe gemacht werden. »Wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit im Juli von aktuell 9,3 Prozent, was deutlich über dem Bundesschnitt von etwa 4,8 Prozent liegt, und auf der anderen Seite über 7000 freie Plätze, aber auch über 7000 unversorgte Lehrstellenbewerber«, sagt Giffey. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, im August, im September noch in eine Ausbildung zu gehen«, wirbt sie.
Doch es gibt Menschen, die sich schon für eine Ausbildung im Handwerk entschieden haben, aber vor neuen Problemen stehen. Im Gespräch mit der Regierenden Bürgermeisterin berichtet Straßenbau-Azubi Walter Leon über einen Kollegen, einen Geflüchteten, der vor rund zweieinhalb Jahren nach Berlin gekommen sei: »Der ist unglaublich engagiert und unglaublich gern bei der Arbeit. Er kriegt das aber in der Schule nicht hin. Er hat ein Problem mit der Sprache.« Der Kollege sei deswegen bei der Zwischenprüfung durchgefallen. »Das ist so ärgerlich, weil man weiß: Der könnte das bestimmt«, so Leon weiter. Im Berufsschulunterricht werde nicht groß Rücksicht auf solche Probleme genommen.
Der Lehrbauhof der Fachgemeinschaft Bau entwickle gerade für solche Problemlagen ein Programm, berichtet dessen Geschäftsführerin Gerrit Witschaß. »Wir würden gerne diese Leute, die mit großen Sprachproblemen zu uns kommen, bei uns aufnehmen«, sagt sie. Halbtags Sprachunterricht und halbtags das normale Ausbildungsprogramm, außerdem der Besuch der Berufsschule, mindestens im ersten Lehrjahr alles noch jenseits einer Anstellung bei einer konkreten Firma. »Die Menschen wollen nicht erstmal lange Projekte wie Arrivo machen, sondern gleich in den Ausbildungsstatus, damit sie ihren Duldungsstatus behalten«, schildert Witschaß. »Sonst laufen uns die Leute weg. Wir sind als Lehrbauhof unseren Betrieben verpflichtet, aber auch unseren Auszubildenden«, sagt sie.
Auch Giffey kennt solche Probleme. In der Autowerkstatt ihres Bruders mache ein Geflüchteter aus Syrien eine Ausbildung, auch dort scheiterten Prüfungen an mangelnden Sprachkenntnissen. Witschaß sagt zu ihr: »Dann lassen Sie uns doch etwas probieren.«
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