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Auferstanden aus Ruinen
Notizen aus Venedig (2): Ein Besuch im Dogenpalast lehrt: Hier hätten selbst Mielke und Co noch einiges über Staatssicherheit lernen können.
Venedig leer zu nennen, wäre falsch. Aber es ist höchstens halbvoll. Eine gute Gelegenheit, einmal den Dogenpalast zu besichtigen, wo im Normalfall immer lange Schlangen am Eingang jeden spontanen Entschluss einzutreten zunichte machen. Mit einer Priority-Eintrittskarte für 28 Euro (ab September 35 Euro) gehe ich also an der nicht vorhandenen Schlange vorbei – hinein in den Bauch der venezianischen Machtmaschine. Fast siebenhundert Jahre (bis Napoleon kam) war die kleine schwimmende Republik eine der mächtigsten und reichsten Städte der Welt.
Der Dogenpalast ist ein Herrschaftssymbol im Namen des Volkes, das einen vom demokratischen Glauben abfallen lassen könnte. Denn über allem herrschte ein einziges Prinzip: die Staatssicherheit. Mielke und Co hätten hier einiges lernen können zur Perfektionierung des Überwachungsapparates. Löwenmäulerbriefkästen etwa an jeder Ecke wie in Venedig zu schnellstmöglichen Beförderung anonymer Denunziationen. Der Doge selbst war jederzeit Objekt der Überwachung und hatte wenig zu sagen. Verschiedene Gremien tagten hier in unterschiedlich großen Sälen. Der Senat, der aus etwa einhundert Mitgliedern bestand, in einem mittelgroßen Saal. Der große Ratssaal, mit über 50 Meter Länge seinerzeit der größte Europas, fasste Vertreter aller Adelsfamilien Venedigs. Aber auch sie waren nur Teil eines größeren, ausgeklügelten Systems der Machtsicherung.
Berüchtigt war der »Rat der Zehn«, der in einem halbrund getäfelten Raum zusammenkam – mit zahlreichen Geheimtüren, aus denen man wie aus dem Nichts auftreten konnte. Hier wurden die eingehenden Denunziationen beraten und im Verdachtsfall Festnahmen ausgesprochen. Auch ein Doge, Malin Faliero, wurde 1355 Opfer dieses Kontrollorgans, das sich selbst jeder Kontrolle entzog. Der Doge Malin Faliero wurde schließlich öffentlich hingerichtet.
Tintoretto hatte die Porträts von 76 Dogen gemalt, die sich am Fries des Ratssaals befinden. Das Portäts Falieros fehlt nicht etwa, es wurde öffentlichkeitswirksam mit einem Tuch verhängt. »Damnato memoriae« lautete das Urteil: »Aufhebung der Erinnerung an sein Gesicht«. In Venedig wurde immer schon erfolgreich Symbolpolitik betrieben.
Der Weg von den prunkvollen Sälen und Kammern des Dogenpalastes hinab in die Unterwelt der Kerker war kurz. Ich folge dem Rundgang-Schild mit einigem Zögern – und siehe, schon gehe ich über die Seufzerbrücke, wo durch die offen gehaltenen steinernen Ornamente noch Luft einströmt und man wie durch Schlitze hindurch das Wasser des darunter liegenden Kanals glitzern sieht, auch unerreichbare Menschen auf der Brücke gegenüber – und dann wird es dunkel und eng. Und immer dunkler und enger. Rechts und links liegen die Zellen.
Die Türen, mit dicken Beschlägen versehen, sind so niedrig, dass die Gefangenen nur gebückt eintreten konnten. Fensterloser Gang schließt sich an fensterlosen Gang an, jeder spärlich beleuchtet und kein Mensch zu sehen. Man hält es offenbar nicht für nötig, diesen Gefängnisteil, der noch bis ins 20. Jahrhundert als solcher genutzt wurde, irgendwie zu beaufsichtigen. Denn hier unten ist kein wertvoller Tintoretto verborgen.
Bevor ich in diesem Zellenlabyrinth ganz verloren gehe vor klaustrophobischer Angst, muss ich hier raus und zwar schnell. Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte die Seufzerbrücke im Eilschritt nicht aufseufzend, sondern aufschreiend erreicht. Das wäre dann wie eine Kunstaktion mit echter Panik!
Eigentlich bin ich ja vor allem wegen des Malers Anselm Kiefer gekommen. Kiefer hat die vergangenen beiden Corona-Jahre genutzt, einen der Säle des Dogenpalastes mit riesigen Anti-Machtbildern in dicken grau-schwarzen Farbschichten auszugestalten. Doch immer wieder leuchtet es in dieser offenkundigen Misere rötlich auf. Es riecht nach frischer Farbe und ferner Verheißung. Einige Besucher, die offenbar unvorbereitet hereintreten, prallen fast schon entsetzt zurück. Statt Fortsetzung der glamourösen Dogenszenerie herrscht hier die Schattenwelt.
Kiefer hat seinen riesigen Tafelbildern ein Zitat des venezianischen Philosophen Andrea Emo vorangestellt: »Diese Schriften werden, wenn sie verbrannt sind, endlich ein wenig Licht verbreiten.« Klingt gefährlich, soll es auch.
Natürlich handelt es sich hier nicht um die plumpe Ideologie von Bücherverbrennern. Nein, der Ausgangspunkt seiner Bilderserie ist der Brand des Dogenpalastes im Jahre 1577. Die gesamte Einrichtung wurde damals zerstört, auch alle Bilder. Kiefers erstes großes Tafelbild zeigt darum dicke Stapel angesengten Papiers, die an rußgrauen Wänden hinaufsteigen. Die Stunde Null der großen Ratlosigkeit.
Kiefer sagt, für ihn seien Ruinen vor allem etwas Hoffnungsvolles. Sie haben die Vergangenheit gründlich zu Ende gebracht, lassen Raum für Neues. Ich denke an Johannes R. Bechers DDR-Nationalhymne, die beginnt: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt«. Das trifft den Nerv einer Übergangszeit. Kiefer wurde im März 1945 in Donaueschingen geboren, einen Tag war er erst auf der Welt, da sank während eines Bombenangriffs auf Donaueschingen sein Geburtshaus in Trümmer. Ihn habe das als Kind jedoch nicht gestört, er habe in der Ruine seines Elternhauses die abenteuerlichsten Spiele gespielt.
In seinen Bildern schlägt Kiefer den Bogen vom Brand des Dogenpalastes 1577 zum Brand seines Elternhauses am Ende des Zweiten Weltkrieges. Glückliche Zeiten, in denen man Trümmer beiseite räumt und Zukunft gestaltet. In der Malerei Venedigs war es dann vor allem Tintoretto, der nun fast im Alleingang den neuen Dogenpalast mit seinem expressiven Stil prägte – und damit auch ein revolutionäres, höchst vitales Bild vom Menschen.
Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen aus den letzten Jahren sind unter dem Titel »Venedig für Skeptiker« mit Illustrationen von Dieter Goltzsche im Quartus-Verlag erschienen.
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