- Kultur
- Architektur
»Komm rein und mach mit!«
Kann Baukunst die Zivilgesellschaft stärken? Ja, fand Günter Behnisch. Zum 100. Geburtstag erinnert eine Ausstellung in Stuttgart an den Architekten
Alles Schwere war ihm verhasst. Egal ob Schiefer oder Granit, Marmor oder Muschelkalk – Günter Behnisch verschmähte jenes Materialpathos, das lange als Goldstandard der Baukunst gegolten hat. Der Stuttgarter Architekt zielte auf die Kategorien der Zugänglichkeit und der Gemeinschaft. Mit Stahlträgern, luftigen Zeltdächern und viel Verbundglas erhob er pragmatisches Ingenieurshandwerk zu einer tragenden Säule der Demokratie. Seinen deutlichsten Ausdruck fand das im Neubau des Bonner Bundestags, der leider nur kurz in Betrieb war.
In diesem Jahr hätte Behnisch 100. Geburtstag gefeiert. Die Architektenkammer Baden-Württemberg (AKBW) nimmt das Jubiläum zum Anlass, den 2010 Verstorbenen in einer umfassenden Retrospektive zu würdigen. Ort der Ausstellung ist die ehemalige Filiale von Karstadt Sport in der Stuttgarter City. Zum Rohbau entschlackt, strahlt der ehemalige Konsumtempel den typischen Charme der Nach- oder Zwischennutzung aus. Auf wohnzimmergroßen Arbeitstischen breiten sich wie in einem Architekturbüro Modelle und Entwurfszeichnungen aus. Sie sind das Herzstück des Ganzen, Fotos dokumentieren, wie sich die visionären Ideen in der Realität behaupten.
Den chronologisch geführten Parcours eröffnen Behnischs Schulbauten, die den deutschen Südwesten bis heute prägen. Bereits in jenen Frühwerken spürt man eine Ausrichtung der Architektur am demokratischen Aufbruchsgeist. Frei angeordnete Gebäudeflügel beziehungsweise Pavillons (etwa bei der Stuttgarter Vogelsang-Schule) überwinden das Prinzip der pädagogischen Schuhschachtel. Durch weite Sichtachsen und den großzügigen Einsatz von Glas ist alles auf Offenheit und Transparenz bedacht. Kreisförmige Anlagen mahnen an die gemeinsame Verantwortung. »Komm rein und mach mit!« scheinen Bauten wie das ehemalige Progymnasium (heute Realschule) im württembergischen Lorch dem Vorbeigehenden zuzurufen. Die variabel konzipierten Unterrichtssäle des zentralen Zehnecks umfängt eine von der Mitte ausstrahlende Konstruktion aus Stahlbeton. So wird die Schule zur begehbaren Metapher für die Vielfalt in der Einheit.
Behnisch kommt 1922 in Lockwitz bei Dresden zur Welt, später übersiedelt er mit seiner Familie nach Chemnitz. Das Architekturstudium in Stuttgart macht ihn in der Nachkriegszeit zum Wahlschwaben. Vielleicht auch aus biografischen Motiven suchen seine Bauten stets das Atmende und den gläsern-lichtvollen Dialog mit der umgebenden Natur. Als U-Boot-Fahrer im Zweiten Weltkrieg hatte Behnisch am eigenen Leib erfahren, was Enge und Dunkelheit bei Menschen auslösen. Überhaupt erklärt sich sein Oeuvre aus dem, was er überwinden wollte: die ornamentverzierten Trutzburgen der wilhelminischen Ära und den Monumentalismus der Nazis, der das Individuum zur Ameise erniedrigte.
Behnischs berühmtestes Projekt, das Münchener Olympiagelände von 1972, ist denn auch vom ersten Skizzenstrich an eine Antithese zum historisch kontaminierten Pendant aus Berlin, wo sich 1936 der deutsche Faschismus feiern ließ. Das grüne Dorf der Münchener Weltspiele dagegen lud zum zwanglosen Umherschweifen ein. Behnischs Akzent lag auf dem Gedanken der internationalen Begegnung, nicht auf dem des Wettkampfs. Zugleich vollbrachte der Stuttgarter mit dem Stadiondach eine der großartigsten technischen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Bei den frühen Modellen experimentierte er mit Nylonstrümpfen. Umgesetzt werden konnte das statisch fast unmögliche Riesenzelt über der Sportstätte am Ende nur dank des Kollegen Frei Otto.
Mit ihrer aspektreichen Behnisch-Parade beweist die AKBW, wie eng Architektur mit politischen, pädagogischen und ökonomischen Fragen zusammenhängt. Deshalb sei den Verantwortlichen auch verziehen, dass sie mitunter recht viel Heldenverehrung betreiben und gerade Behnischs letztes Großprojekt, das eingequetschte Gewächshaus der Berliner Akademie der Künste von 2005, ein bisschen zu gut wegkommen lassen. Da er in den Maßstäben der alten Bundesrepublik operierte, musste das Gastspiel in der neuen Hauptstadt wohl zwangsläufig scheitern. Behnischs Vorstellung von Zivilgesellschaft entsprach nicht mehr einem Städtebauwillen, der primär Investoreninteressen berücksichtigt.
»Bauen für eine offene Gesellschaft« überschreibt sich der Stuttgarter Rückblick auf den innovativen Leichtbaukünstler. Wer sein Schaffen aus heutiger Sicht betrachtet, erkennt auch einen bedenklichen Wandel der politischen Kultur. Während sich der Liberalismus momentan darauf reduziert, jedem chronischen Bleifuß seine 200 Sachen auf der Autobahn und jedem Virenträger das maskenlose Herumhusten in Innenräumen zu erlauben, wäre Behnischs Freiheitsphilosophie solch ein entfesselter Egoismus fremd gewesen. Demonstrativ verpflichtete er die Privilegierten zur Demut. Könnte im aktuellen Klima der auseinander driftenden Ränder noch einmal so etwas wie der 1992 eingeweihte Bonner Bundestag entstehen? Behnisch schuf seinerzeit ein gläsernes Rund mit Ein- und Durchblick für alle, wobei er die Sitze der Abgeordneten in eine Mulde versenkte. Keiner der Mächtigen sollte sich über die Landschaft draußen vor der Glasfront erheben.
Vor diesem Hintergrund wird nicht zuletzt verständlich, warum Privathäuser Behnisch kaum interessiert haben. Dem Homo politicus am Reißbrett muss klar gewesen sein, wie schnell der Rückzug ins heimelige Wohnzimmer, das »New Cocooning«, gesellschaftliches Engagement schwächt. Lakonisch ließ er den Vorwurf, seine Bauten seien kühl und unbehaglich, abperlen: »Wenn jemand Gemütlichkeit braucht, soll er sich eine Katze anschaffen.«
Bis 3. Oktober, Theaterpassage, Königstraße 1c, Stuttgart. Mo bis Sa 10-20 Uhr, So 15-19 Uhr
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.