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Die Community hat Schmerzen

Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe über Versäumnisse bei der Bekämpfung der Affenpocken-Epidemie in Berlin

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 8 Min.
Berlin gilt als einer der Hotspots der Affenpocken-Epidemie.
Berlin gilt als einer der Hotspots der Affenpocken-Epidemie.

Herr Wicht, mehrere Verbände aus der queeren Community haben jüngst Kritik am Umgang der politisch Verantwortlichen mit der Affenpocken-Epidemie geübt: Erst hat sich der Start der Impfkampagne verzögert, jetzt gibt es zu wenig Impfstoff. Wie geht man mit dem Frust und der Enttäuschung der queeren Menschen in Berlin um? Was muss jetzt passieren?

Interview

Die 1983 in Berlin gegründete Deutsche Aidshilfe (DAH) mit ihren rund 120 regionalen Mitgliederorganisationen versteht sich als bundesweites Netzwerk für die strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Bereich HIV/Aids und anderer sexuell übertragbarer Infektionen für die besonders von diesen Krankheiten bedrohten und betroffenen Gruppen. Holger Wicht ist seit 2011 Sprecher der DAH. Über die aktuelle Affenpocken-Epidemie in der Hauptstadt sprach mit ihm nd-Redakteur Mischa Pfisterer.

Vor allem braucht es mehr Impfstoff. Die Fragestellung lautet nun: Wie geht Berlin mit den noch zu erwartenden Impfdosen möglichst effektiv um – und wie mit dem Mangel? Was brauchen wir sonst noch, um die Epidemie in den Griff zu bekommen? Für gute Lösungen müssen die lokalen Organisationen gut und auf Augenhöhe eingebunden sein, die die Zielgruppe in der Community vertreten – in diesem Fall Männer, die mit Männern Sex haben.

Das wäre ein großer Schritt nach vorn. Aber reicht das? So schnell wird die Epidemie ja nicht wieder weggehen, schon gar nicht in Berlin.

Wir brauchen Strategien, wie wir damit mittel- und langfristig umgehen. Und die Lösung kann nicht in dem liegen, was gerade viele schwule Männer tun, um ihre Gesundheit zu schützen: sich sexuell zurückzuhalten. Auf längere Sicht ist das eine vermessene Vorstellung und nicht praktikabel.

Was heißt mittelfristig? Im Herbst? Da soll es ja auch eine neue Kampagne für die Covid-19-Impfung geben. Beides zu verbinden, könnte doch ein Weg sein.

Ich war gerade in Montréal bei der Welt-Aids-Konferenz. Da gehst du durch die eine Tür ins Covid-Impfzentrum, und wenn du da falsch bist und eigentlich eine Affenpocken-Impfung wolltest, nimmst du einfach die nächste Tür. So kann es laufen, wenn der Impfstoff da ist. Und es könnte natürlich perspektivisch sehr sinnvoll sein, noch viel stärker im Herzen der Community zu impfen. Die Impfung sollte leicht erhältlich sein, nicht nur in spezialisierten Praxen.

Die Deutsche Aidshilfe hat jetzt gesagt, wir benötigen für Deutschland eine Million Impfdosen. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Es gibt in Deutschland grob geschätzt 800 000 Männer, die Sex mit Männern haben. Dazu haben wir die Zahlen aus der letzten EMIS-Studie – das ist die größte verfügbare Erhebung zum Thema Lebens- und Sexualgewohnheiten schwuler Männer. Aus der geht hervor, dass knapp drei Viertel nicht in monogamen Beziehungen leben, sondern in irgendeiner Form mit wechselnden Partnern Sex haben. So sind wir auf weit über 500 000 Männer gekommen, die ein Risiko für Affenpocken haben und denen mittelfristig ein Impfangebot gemacht werden muss, wenn diese Epidemie nicht von selbst wieder weggeht.

Das Robert Koch-Institut (RKI) rechnet mit anderen Zahlen, konkret: mit 130 000 Männern. Wie kommt die Diskrepanz zustande?

Die 130 000, die das RKI errechnet hat, bezogen sich auf Männer mit häufig wechselnden Partnern, mehr als zehn pro Jahr. Das hatte für die akute Phase eine gewisse Berechtigung, da ging es zunächst um die Menschen mit dem höchsten Risiko. Mittelfristig brauchen aber sehr viel mehr Menschen eine Impfung. Wir können doch nicht denen, die weniger als zehn Partner pro Jahr haben, sagen: Nee, du kriegst keine. Man kann sich die Affenpocken auch beim fünften Partner holen.

Wer hat momentan in Berlin überhaupt eine Chance auf eine Impfung?

Es gibt eine Priorisierung. Als allererstes haben Menschen die Möglichkeit, eine Impfung zu bekommen, die ein Risiko für die Infektion und einen schweren Verlauf haben, zum Beispiel aufgrund einer Vorerkrankung. Auch Menschen, die engen Kontakt zu Erkrankten hatten, sollen sofort geimpft werden können, um die Infektion oder schwere Verläufe noch zu verhindern. Nun schauen die Ärztinnen und Ärzte, wer noch ein hohes Risiko hat, sich zu infizieren. Dazu zählen zum Beispiel viele Nutzer*innen der HIV-Prophylaxe PrEP, die diese ja meist nehmen, weil sie wechselnde Partner und ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion haben.

Das Problem ist ja, dass man leichter an die Impfung kommt, wenn man schon in einer HIV-Schwerpunktpraxis Patient ist.

Viele schwule und bisexuelle Männer mit erhöhtem Risiko für sexuell übertragbare Infektionen sind bereits in solchen spezialisierten Praxen Patienten, aber lange nicht alle. Natürlich muss die Impfung auch denen zur Verfügung stehen, die noch nicht in einer Schwerpunktpraxis im Computer sind!

Nochmals zu meiner Eingangsfrage: Was muss passieren?

Ganz ehrlich: Es gibt kurzfristig keine optimale Lösung. Wir brauchen jetzt vor allem eine solidarische Haltung und klare, offene, ehrliche Kommunikation. Die Menschen müssen verstehen, warum sie jetzt noch keine Impfung kriegen. Und sie müssen gleichzeitig sehen, dass sich Leute dahinterklemmen, so viel Impfstoff wie möglich zu besorgen. In dem Moment, wo das glaubhaft versichert wird und die Verantwortlichen sich auch wirklich kümmern, in dem Moment sind Menschen auch eher bereit zu warten.

Weil sie Verständnis entwickeln für die Situation, dafür, dass es eben auch nicht so einfach ist, massenhaft Impfdosen zu bestellen, wenn der Weltmarkt leergefegt ist?

Die Situation ist komplex und muss erklärt werden. Das passiert noch nicht ausreichend. Und ich habe den Eindruck, dass die Kommunikationspolitik im Moment manchmal Teil des Problems ist. Da wurde zum Beispiel vom Berliner Senat aus gesagt: Ist doch eigentlich super gelaufen mit dem Impfstart. Obwohl wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Das untergräbt auch das Vertrauen in alles, was noch kommt und schadet so der Prävention.

Es heißt, im September soll Berlin etwas mehr als 63 000 Dosen bekommen und man werde versuchen, mehr zu bekommen.

Wir wissen im Moment nicht genau, wann wie viel Impfstoff kommt. Und was bereits zugesagt ist, wird auch nicht für alle reichen. Wie es danach weitergeht, das wissen wir noch überhaupt nicht. Schwule Männer erwarten aber – bei allen Ungewissheiten – auch darauf Antworten. Was ist die Strategie? Welche Überlegungen gibt es? Kümmert sich jemand? Viele haben im Moment das Gefühl, es wird seitens der Politik gemauert.

Schnell kommen dagegen wieder gutgemeinte Ratschläge, die Männer sollten doch in Sachen Sex einfach mal die Füße stillhalten. Wo fängt aus Ihrer Sicht hier eine Stigmatisierung an?

Ich finde, da wird häufig eine Grenze überschritten. Natürlich müssen wir feststellen, dass die Übertragungswahrscheinlichkeit vom sexuellen Verhalten abhängt und dass eine Option, das Risiko zu reduzieren, in weniger Kontakten besteht. Das darf man auch sagen – wenn man es als Hilfestellung, als eine Möglichkeit in den Raum stellt, statt es vorschreiben zu wollen.

Aber noch mal zu meiner Frage. Wenn die »Ratschläge« derart normativ daherkommen, wie ich es gerade zugespitzt habe…

…dann ist das eine Abwertung von Sexualität und auch eine Abwertung von Bedürfnissen. Und das gerade jetzt, wo viele sich schon sehr einschränken. Und dann hören sie auch noch: Ihr immer mit eurer ausschweifenden Sexualität! Das knüpft an das homophobe Stereotyp vom triebhaften Schwulen an. Und es wird überhaupt nicht ernst genommen, was andere Menschen umtreibt. Es wird weder ihr sexuelles Bedürfnis ernst genommen noch die Angst, die sie derzeit haben, noch wird die Notsituation gesehen, in der wir als Community gerade sind.

Es geht also auch um das Gefühl, schon wieder von etwas bedroht zu sein.

Auf der Welt-Aids-Konferenz in Montréal gab es eine Demo unter dem Motto »Share the shots« (Teilt die Dosen). Da ging es vor allem um die USA, aber auch um die weltweite Verteilung von Impfstoffen. Und da sagte ein Mensch auf der Bühne: »Our community is in pain«. Ich finde das total zutreffend. Unsere Community hat Schmerzen, und manche haben im Wortsinne »pain in the ass«.

Wenn sie das Virus erwischt hat.

Bestimmte Symptome können äußerst schmerzhaft sein. Aber gleichzeitig ist es ja auch eine Form von emotionalem Schmerz. Und ja, es geht darum, schon wieder bedroht zu sein von etwas. Schon wieder bedroht zu sein von Stigmatisierung. Schon wieder schuld zu sein, sich einschränken zu müssen, sich überlegen zu müssen: Gehe ich jetzt aus oder nicht? Und wenn, dann mit einem schlechten Gefühl. Das ist auch alles »pain«. Und das gilt es auch mal anzuerkennen, was das für eine Scheiße ist, in der unsere Community da jetzt schon wieder steckt.

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