Kein plötzlicher Zusammenbruch

Die afghanische Regierung wurde im Stich gelassen durch das Abkommen zwischen den USA und den Taliban

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Jahr nach der Rückkehr der Taliban an die Macht scheint die Lage in Afghanistan hoffnungslos. Das Land steckt in einer schweren humanitären Krise, die Bevölkerung hungert. Die Taliban drangsalieren Frauen und Mädchen, versperren Lebenschancen. Und noch immer fragen sich zumeist westliche Kommentatoren, wie die in 20 Jahren mit großen finanziellen und noch gewaltigeren militärischen Mitteln aufgebaute staatliche Ordnung der Islamischen Republik Afghanistan so schnell zusammenbrechen konnte.

Die Frage ist aber falsch gestellt, wenn man der Argumentation von Maryam Baryalay folgt. Sie ist Mitbegründerin und CEO des in Kabul ansässigen Forschungsinstituts Organisation for Social Research and Analysis (OSRA) und ehemalige Sicherheitsanalystin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Der Zusammenbruch sei nicht urplötzlich über das Land hereingebrochen, sondern habe sich 2019 angekündigt und wurde ein Jahr später sogar schriftlich besiegelt: »Der Kollaps der vom Westen unterstützten Regierung war das Ergebnis des Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung und den Taliban im Februar 2020«, sagte sie am Montag bei einem Pressegespräch des Berliner Vereins Yaar, der afghanische Geflüchtete unterstützt. Praktisch über Nacht habe dann das US-Militär die Einsatzregeln für Afghanistan geändert, so Baryalay: »Die US-Luftwaffe wurde angewiesen, keine Stellungen der Taliban anzugreifen oder afghanische Truppen bei ihren Angriffen zu unterstützen. Außerdem sollte die afghanische Armee nur eine defensive Haltung einnehmen und keine offensive.«

Die Autorin Mina Jawad räumte beim Pressegespräch mit dem weit verbreiteten Vorurteil auf, dass die Soldaten der afghanischen Nationalarmee kampfunwillig gewesen seien und die Afghan*innen gar kein echtes Interesse an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehabt hätten. Sie spricht in diesem Zusammenhang von »Kulturrelativismus« und wendet sich gegen die vor allem in Talkshows verbreitete Vorstellung, dass die Menschen eine irgendwie geartete »Affinität zu den Taliban« hätten. Diese Erzählungen sollten lediglich davon ablenken, »dass es in Afghanistan nie konsequent um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ging, sondern um geopolitische und wirtschaftliche Interessen«, betonte Mina Jawad. Ein großer Fehler sei es auch gewesen, die Taliban 2001 auszuschließen von der Petersberger Konferenz in Bonn, auf der die Zukunft des Landes verhandelt wurde, anstatt eine inklusive Regierung zu bilden.

Was die Haltung der Afghan*innen zu den Taliban angeht, sprechen Umfrageergebnisse eine klare Sprache. So sei der Rückhalt der afghanischen Regierung in der Bevölkerung zwar von 71 Prozent im Jahr 2020 auf 48 Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen, berichtete Maryam Baryalay. Die Taliban konnten davon aber nicht profitieren, denn die Anzahl ihrer Unterstützer blieb weiterhin »unter 7 Prozent«. Die Menschen müssen nun aber unter einem Regime weiterleben, für das Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen nicht viel zählen.

Laut einem Bericht von Amnesty International haben die Taliban entgegen ihren Ankündigungen nach ihrer Machtübernahme vor einem Jahr schwerste Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan begangen. Die radikalislamische Regierung verfolge Minderheiten, schlage friedliche Proteste gewaltsam nieder und unterdrücke Frauen, heißt es in dem am Montag veröffentlichten Bericht »Die Herrschaft der Taliban: Ein Jahr voller Gewalt, Straflosigkeit und falscher Versprechen«.

Zudem gebe es außergerichtliche Hinrichtungen und Fälle des Verschwindenlassens von Menschen. Verbrechen wie Folter, Morde aus Rache und Vertreibungen von Minderheiten blieben oftmals straflos. Auch wichtige Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre, insbesondere bei den Rechten von Mädchen und Frauen, würden zunichte gemacht, erklärte Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. Ausbildung und Teilhabe am öffentlichen Leben würden ihnen verwehrt. »Sie erfahren in nahezu jedem Lebensbereich systematisch Diskriminierung.«

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