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Der Kreml hat sich verkalkuliert
In Kiew fürchtet man Putins »Grüße« zum Tag der Unabhängigkeit
Seit 1991 begeht die Ukraine am 24. August ihren Tag der Unabhängigkeit. Damals hatte das Parlament fast einstimmig den Austritt der Sowjetrepublik aus der UdSSR erklärt. In Kiew wurde der Feiertag bislang mit Militärparaden und Volksfesten begangen. Nun aber warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass Russland »in dieser Woche versuchen könnte, etwas besonders Hässliches, etwas besonders Bösartiges zu tun«. Denn am 24. August ist es exakt ein halbes Jahr her, dass Russland mit dem Überfall auf die Ukraine nicht nur territoriale Grenzen überschritten hat. Kriegstreiber Wladimir Putin, so mutmaßt man in Kiew, könnte am Mittwoch mit erneuten Raketenattacken auf die Hauptstadt klarmachen wollen, dass es nichts zu feiern gibt.
Der Krieg gegen die Ukraine war von Moskau monatelang vorbereitet worden. Zunächst als Erpressungsversuch. Für einen Einmarsch in das Nachbarland waren die militärischen Mittel zu gering kalkuliert. Putin erteilte dennoch den Angriffsbefehl. Danach prognostizierte man bei der Nato in Brüssel, dass die Ukraine maximal zwei Wochen widerstehen würde. Eine Fehleinschätzung, denn die von ihrer eigenen Propaganda geblendeten Angreifer leisteten sich katastrophale Fehler. Die aus Belarus eindringenden Verbände wurden in Sichtweite von Kiew geschlagen, Russlands Armee gruppierte sich um, doch auch die Angriffswellen im Donbass und jene aus der Schwarzmeerrichtung stecken fest.
Dazu trugen vor allem die immensen Lieferungen moderner Waffen und Munition, die Ausbildung sowie die Aufklärungsergebnisse bei, mit denen vor allem Nato-Staaten das überfallene Land versorgen. Allein die Militärhilfe, die der Ukraine von den Vereinigten Staaten unter der Regierung von Joe Biden zugeteilt wurde, belief sich bisher auf etwa 10,6 Milliarden Dollar.
Man muss wahrlich nicht alles für bare Münze nehmen, was der ukrainische Präsident Selenskyj in seinen allabendlichen Videoansprachen kundtut. Aber wenn er – wie vor ein paar Tagen – betont, der Krieg habe »alles verändert für die Ukraine, für Europa und für die Welt«, kann es daran kaum Zweifel geben. Ziel Russlands sei es, sein Land zu erniedrigen, Angst und neue Konflikte zu schüren. Diesem Druck dürfe sich niemand beugen, sagte Selenskyj. Er prophezeit den »Sieg der Ukraine«. Um den zu erringen, »halten wir zusammen, helfen einander, bauen das Zerstörte wieder auf und kämpfen für unsere Leute.«
Wenn sich das Leben der Menschheit in wesentlichen Bereichen einschneidend verändert, spricht man von einer »Zeitenwende«. Bundeskanzler Olaf Scholz nutzte den Begriff in seiner Regierungserklärung, wenige Tage nachdem russische Panzer Richtung Kiew rollten. Deutschlands Regierende lassen jede Anstrengung zur Mäßigung des Mordens vermissen. Bundestag und Bundesrat sicherten das größte Aufrüstungsprogramm in der deutschen Geschichte und verabschiedeten sich in die Sommerpause.
Auch wenn sich der Beginn dieser jüngsten Zeitenwende auf den 24. Februar 2022 datieren lässt, so geht ihr doch eine lange widersprüchliche Entwicklung voraus. In der viele nur ihren eigenen Vorteil suchten, im Osten wie im Westen. Für den Kreml ist das Töten und Zerstören offiziell kein Krieg: Die Entscheidung, eine »Spezialoperation« in der Ukraine durchzuführen, sei getroffen worden, um Faschisten aus weiten Teilen des Nachbarlandes zu vertreiben, hieß es anfänglich. Nun betont man zunehmend »inakzeptable Bedrohungen für die Sicherheit Russlands«. Kiew hat Weichen für einen Beitritt zur Nato gestellt, stellte Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu gerade wieder einmal fest. Seit acht Jahren begehe die Zentralregierung ungeheure Verbrechen gegen die Bewohner des Donbass. Putin beschuldigt den Westen, Millionen von Ukrainern »als entbehrliches Material für geopolitische Spiele« zu missbrauchen.
Politisch hat das Putin-Regime mit seinem völkerrechtswidrigen Überfall nur das Gegenteil dessen erreicht, was ihm nützt. Die Nato ist geeinter und durch den bevorstehenden Beitritt von Schweden und Finnland stärker denn je. Westliche Truppen haben an der Ostgrenze des Bündnisses dauerhaft und mit überlegenen Kräften Kampfstellungen bezogen. Der allgemeine Rüstungswettlauf ist nicht mehr zu bremsen. Von zwischen Washington und Moskau ausgehandelten Sicherheitsverträgen ist kaum ein Hauch geblieben. Auch das macht die Zeitenwende so gefährlich. Obwohl der Westen sich bislang daran hält, der Ukraine keine strategisch nutzbaren Waffen zu liefern, kann der Krieg im Osten Europas zur atomaren Verwüstung des Kontinents oder der gesamten Welt führen.
Die völlige Kapitulation einer Seite ist im Ukraine-Konflikt nicht zu erreichen. Und für eine totale Ermattung der Kontrahenten ist Russland zu groß, während die Ukraine die westliche Welt hinter sich hat. Als Ausweg bleiben nur Verhandlungen auf Augenhöhe. An deren Ende müssen beide Seiten den Eindruck vermitteln können, ihr Gesicht gewahrt zu haben. Auch davon ist man derzeit weit entfernt. Nicht zuletzt deshalb, weil sich kein ehrlicher Vermittler finden lässt. Ob sich die von der Uno und der Türkei initiierte Mission zum Export ukrainischen Getreides und russischen Kalis politisch ausweiten lässt, ist fraglich.
Hoffnungen auf einen Waffenstillstand gibt es auch deshalb nicht, weil sich die Nato-Staaten untereinander noch immer nicht über mögliche Ziele solcher Verhandlungen verständigt haben. Ohne die USA geht nichts im Verhältnis zu Russland. In Washington weiß man natürlich, dass man den Stellvertreterkrieg nicht auf unbestimmte Zeit führen lassen kann. Derzeit scheint man dort zufrieden mit der aktuellen Schwächung Russlands, denn die USA wollen alle Kräfte bündeln, um den eigentlichen globalen Konkurrenten China einzuhegen. Ob diese Strategie aufgeht, wird sich im November auf der indonesischen Insel Bali zeigen, wo der nächste G20-Gipfel stattfindet. Bislang planen die Führer Russlands und Chinas, Wladimir Putin und Xi Jinping, ihre Teilnahme. Von ihrem – möglicherweise abgestimmten – Auftreten werden Hinweise auf die weitere Entwicklung in der Welt und damit auch in der Ukraine erwartet.
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