- Wirtschaft und Umwelt
- Weinanbau in Moldawien
Aufbruch der kleinen Winzer
In Moldawien, dem Armenhaus Europas, erlebt der Weinbau einen unerwarteten Aufschwung
Beim zweiten Glas kommen die Kindheitserinnerungen hoch. Damals, als der Vater der Mutter schon am Mittag auf die Nerven ging und wissen wollte, was es denn am Abend zu essen gebe. Nicht, weil er mitbestimmen oder herrschend sein wollte, sondern weil es den passenden Wein vorzubereiten galt. Also temperieren, öffnen, vor allem aber erst mal: aussuchen. Freilich aus dem eigenen Keller. Und freilich aus eigenem Anbau.
Nicht dass Dorians Eltern Weinbauern wären. Auch waren sie keine sonderlichen Spezialisten auf diesem Feld. Nein, sie waren beide Lehrer. Aber wer in Moldawien auf dem Dorf lebt, hat auch Wein im Garten und ein paar Flaschen im Keller. Das ist so selbstverständlich wie Störche am Feld und Plumpsklo im Hof. Und wenn dann das dritte Glas gefüllt wird und das Tröpfchen zwischen Zunge und Gaumen hin- und herwandert, dann kommt Dorian, ein junger Mann um die 30, zu der Einsicht: Genau das ist Weinkultur.
Wein ist das Kontinuum Moldawiens – von ganz im Norden bis ganz in den Süden, von der Grenze zu Rumänien bis zum Dnister und darüber hinaus in das abtrünnige Gebiet Transnistrien. Sieben Prozent der Landesfläche sind mit Wein bewachsen. 25 Prozent der Arbeitskräfte des Landes haben saisonal oder zur Gänze mit Wein zu tun.
Wein gab es in der Region spätestens seit Katharina der Großen im großen Stil. Unter den Sowjets wurde die Weinproduktion kollektiviert und in industriellem Maßstab betrieben. In der UdSSR galt knapp zusammengefasst: Georgien war der Luxus, Moldawien die Masse. Und das hat sich bis weit in die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion gehalten. 90 Prozent des Exports gingen nach Russland. Nur: Damit ist es nach zwei russischen Embargos vorbei.
Das letzte Exportverbot aus dem Jahr 2013 vergleicht Ion Luca mit dem österreichischen Weinskandal von 1985. Luca ist Weinbauer und Gründer des moldawischen Kleinwinzerverbandes. Damals, 1985, war bekannt geworden, dass viele Weinbauern in Österreich ihre Produkte mit Diethylenglycol versetzten, um sie süßer zu machen und den Alkoholgehalt zu steigern. Der Skandal war eine Katastrophe für das Weinbauland Österreich, stieß letztlich aber eine grundlegende Bewusstseinsänderung bei Weinbauern wie Konsumenten an. Das hatte schließlich zur Folge, dass Österreichs Weinbau seitdem durchweg auf Qualität setzt. Genauso ist es auch in Moldawien.
»Viele haben das damals nicht überlebt«, erzählt Luca über das Jahr 2013. Denn, so fügt er an: »Bei der Qualität, die wir hatten, konnten wir den Wein nur nach Russland verkaufen – wir mussten uns also neu erfinden.« Stolz sei er damals nicht gewesen auf die eigenen Weine. Heute aber schon. Als langjähriger Präsident des Kleinwinzerverbandes hat Luca ein Gesetz mitverfasst, das 2013 zum Fundament dieser Neuerfindung werden sollte. Denn dieses Gesetz war es, das die Auflagen für die Weinproduktion lockerte und eine kleinteilige Weinwirtschaft überhaupt erst ermöglicht hat.
Da ist aber nach wie vor der schwierige europäische Markt und nun auch der Krieg in der Ukraine, wodurch der wichtige Hafen für den Weinexport in Odessa blockiert ist. Seit Juni ist Moldawien jedoch EU-Beitrittskandidat, und Luca schöpft Hoffnung, dass sich die Zeiten bessern. »Wir wissen nicht, was uns erwartet«, sagt er.
Die Geschichte seiner Familie ist eigentlich repräsentativ für die des moldawischen Weinbaus: Der Urgroßvater hatte ein Weingut, wurde aber 1949 verhaftet und die Familie deportiert. Nur der Urgroßvater durfte bleiben, weil er sich mit Weinbau auskannte. Land, Haus, Scheune und Tiere wurden kollektiviert. Was blieb, so erzählt Luca, war eine Baracke. Schließlich kam die Familie zurück, und Lucas Vater arbeitete beim Weingut Cricova.
Cricova, das ist der Ort, an dem Ion Luca auch heute noch lebt. Cricova das ist zugleich der Name eines großen Weinbaubetriebes, der sich nach wie vor in staatlichem Eigentum befindet: 120 Kilometer Weinkeller, pompöse Degustiersäle, in denen schon Juri Gagarin Tage verbracht haben soll, viel Marmor, viel Pomp. Luca, ein Mann um die 40, arbeitet auch in Cricova. Nur nicht in dem staatlichen Betrieb. Er hat seinen eigenen Keller mitsamt Betrieb – ein lichter Bau mit viel Holz und Glas. Der Name: Carpe Diem. Die Reben kauft er nach wie vor extern ein. Das nächste Projekt ist der Zukauf von Land. Er halte ständig Ausschau nach guten Flächen, sagt er und hofft: »Vielleicht wird es unser Weingut wieder geben.«
Das Feld des Weinbaus ist ein weites in Moldau: Nach wie vor gibt es zwei große staatliche Betriebe, die in Bulk, also Hektoliterware produzieren. Aber es gibt auch Weinbauern, die Trauben zwar kultivieren, diese aber nicht verarbeiten. Zudem können sich immer mehr Start-ups behaupten, die in Garagen ihr Allerbestes geben – und das mit verblüffenden Ergebnissen. Viele dieser kleinen Betriebe erwerben nach und nach auch Land. Ein weiterer Trend ist, dass Großbetriebe aus dem Bulkwein-Business zunehmend Qualitätsweine produzieren.
Als Ion Luca 2009 den Kleinwinzerverband gründete, da war das ein Verein von neun Enthusiasten, die sich von Betriebsdirektoren nicht vorschreiben lassen wollten, wie sie Wein zu machen haben – und die noch viel weniger Lust hatten, sich von staatlicher Seite Steine in den Weg legen zu lassen. Sie wollten ihren eigenen Wein machen.
Heute sind es 60 Betriebe. Und bei Weitem haben sich nicht alle Kleinunternehmen dem Verband angeschlossen. An jeder Landstraßenkreuzung gibt es einen Wegweiser zu einem Weinbaubetrieb. An jeder Ecke in Moldawiens Hauptstadt Chişinău steht eine Weinbar mit lokalem Angebot. Selbst in der letzten Kaschemme wird Wein zelebriert, die Flasche am Tisch geöffnet. Bevor alle Gläser gefüllt werden, wird verkostet und dazu Wasser serviert. Das Angebot hat sich stark ausgeweitet. Dafür sorgen vor allem die vielen kleinen Winzer.
Victor Vutcarau kennt die moldawische Weinkultur wie sonst wohl kaum jemand. Mit Weinreben haben er und sein Vater gehandelt, sie gezüchtet und veredelt, neue Sorten ausprobiert. Das tun sie noch immer. Nur dass Victor Vutcarau jetzt mit seiner Frau Vlada selbst Wein am Stadtrand von Chişinău produziert – in einem aufgegebenen Agrarforschungsinstitut. Die Laborräume sind verwaist, die Hallen auch, Vögel nisten darin, tote Straßenhunde verwesen dort. Unvermittelt taucht dann aber ein Pavillon auf und eine bunt bemalte Garage. Davor Liegestühle und Stehtische. In der Garage befinden sich acht Aluminiumtanks voll gärendem Traubensaft. Das ist das Weingut ATU.
Das Akronym bedeutet auf Rumänisch so viel wie »das Beste in dir«. Anfangs war das Projekt eine Idee, um den Handel mit eigenen Reben zu pushen, erzählt Vutcarau. Frei nach dem Motto: Seht her, das könnt ihr aus unseren Reben machen. Nur war das Produkt zu gut, um es als Marketingprodukt zu verschenken. Mittlerweile produziert das Weingut mit 80 Hektar Fläche 45 000 Flaschen pro Jahr und hat fünf Mitarbeiter.
Starthilfe erhielt ATU mit schwedischen und amerikanischen Geldern. Im Tauschhandel wurden Reben gegen Equipment wie eine Presse getauscht. 200 000 Euro stecken insgesamt in dem Projekt. Eine Unsumme für ein Land, in dem das Durchschnittsgehalt bei 350 Euro im Monat liegt. Aber in einigen Jahren werden die Investitionen in das Projekt eingespielt sein. Auf dem lokalen Markt ist ATU bereits eine Größe, dessen Erzeugnisse sogar im Weinshop am Flughafen von Chişinău verkauft werden.
Die wahren Reichtümer wachsen langsam in Moldawien. Denn auf seinen Reisen durch das Land, bei seinen Besuchen in Dörfern und bei Bauern entdeckt Vutcarau nach wie vor bisher unbekannte lokale Sorten. Den Sowjets waren die egal. Den großen Betrieben, die Fasswein für den Weltmarkt produzieren, ebenso. Aber genau diese lokalen Sorten sind es, die für den Sonntagstisch gekeltert werden, die im Dorf vielleicht gegen Milch oder Brimsen, den selbst hergestellten Frischkäse, gehandelt werden, deren Zöglinge oder abgefüllte Endprodukte zwischen Bauern getauscht werden. Weine sind das, die nie mit dem Hintergedanken kultiviert wurden, diese in großem Stil anzubauen. Letztlich bilden sie aber die Basis für die Weinkultur.
Und so reift in der einstigen Industriegarage von ATU in Eichenfässern auch ein Verschnitt aus der klassischen georgischen Sorte Saperavi, die auch in Moldawien kultiviert wird, und der alten moldawischen Sorte Codrinski.
Diese lokalen Sorten sind es, die jetzt zunehmend als abgefüllte Produkte in den Bouteillen kleiner Produzenten landen: weil das die besonderen Weine sind, die es sonst nirgendwo gibt. »Chardonnay kann ich von überall haben, Feteasca Regala gibt es nur hier«, sagt Viktoria Vasiliak. Wenn sie in ihrem Lokal eine Flasche öffnet, dann tut sie das mit Muße. Gemeinsam mit ihrem Bruder hat sie das »Lokal 513« im Zentrum von Chişinău eröffnet. Es ist ihre dritte gemeinsame Gaststätte. Erst haben sie einen Nachtclub aufgemacht – und wieder verkauft; dann eine Bar – und wieder abgestoßen. Nun also ein Restaurant mit erlesenen Weinen. Eben genau das, was der jeweiligen Lebensphase entsprochen habe, sagt sie.
Das Konzept: Wein von kleinen Produzenten zu Preisen für jedermann. Dazu gibt es warme Küche. Exklusiv soll es nicht sein, sagt sie. Dementsprechend sieht auch die Karte aus. Um die 150 Weine finden sich darauf. Das Lokal ist jeden Abend brechend voll.
Dorian hat gerade einen Feteasca Regala im Glas, einen Weißwein. Und Viktoria Vasiliak schenkt sich einen Rosé nach, riecht, schmeckt und sagt: »Ich bin keine Weinkennerin.« Sie könne lediglich sagen, was ihr schmecke und was nicht, was sie gerne rieche. In diesem Fall preist sie die Zitrusnote. Dann sagt sie: »Die Menschen haben sich verändert.« Und damit habe auch der Wein wieder einen anderen Stellenwert erhalten in Moldawien.
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