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Zwischen Orwell und Georgien

Proteste gegen den Ukraine-Krieg gibt es in Russland kaum. Das heißt nicht, dass alle dafür sind.

  • Emil Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Unbeschwert sei ihr Leben in Moskau gewesen, meint Leanna, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihr und ihrer Familie habe es hier an nichts gemangelt. Nach dem Ende der Sowjetunion kamen ihre Eltern aus Georgien in die russische Hauptstadt, wo sie vor 25 Jahren geboren wurde.

Seit dem 24. Februar aber ist vieles anders. Moskau selbst habe sich wenig geändert, sagt Leanna dem »nd«. »Man muss einfach nur die Z-Symbole von den Gebäuden nehmen und alles ist wie immer.« Die Veränderungen spielen sich in den Menschen ab. »Die schrecklichen Dinge, die in der Ukraine passieren, begleiten mich ständig. Ich fühle mich schuldig, dass ich hier einfach so weiterlebe.« So wie ihr geht es vielen Moskauer*innen, ist sie überzeugt: »Es gibt hier viele Menschen, denen der Krieg das Herz gebrochen hat.«

Den Menschen in der weniger als 600 Kilometer entfernten Ukraine zu helfen, ist nicht einfach. Außer finanzieller Hilfe und Paketen gibt es kaum Möglichkeiten. Dabei bezeichnet sich Leanna als politischen Menschen seit sie denken kann. Und als Oppositionelle. Auch in ihrem Umfeld hegt niemand Sympathien für die russische Regierung. Dass viele Russ*innen außerhalb ihrer Blase Präsident Wladimir Putin eher positiv gegenüberstehen, war ihr klar, der breite Zuspruch zum Krieg in der Ukraine hat sie dennoch schockiert. Noch kann man in Restaurants oder Cafés über politische Themen sprechen, wenn auch »etwas leiser«, sagt Leanna.

Nach Kriegsbeginn ist Leanna für einige Wochen zu Familie und Freund*innen nach Georgien gereist, in eine komplett andere Welt. »Wenn den Leuten etwas nicht passt, äußern sie das und gehen auf die Straße.« Die Zeit in Georgien war für Leanna ein Stück Freiheit. »Du fühlst dich sicher. Sicher, deine Meinung zu etwas zu äußern. Es ist, wie es sein sollte.«

Für diese Freiheit lohne es sich auch zu migrieren, meint Leanna. Die georgische Staatsbürgerschaft hat sie seit ihrer Geburt. Doch das ist nicht alles. Erst möchte sie sich beruflich unabhängig machen; Leanna ist im medizinischen Bereich tätig. Ihr Ziel ist ein sicherer Job, den sie von überall aus machen kann. Im Januar hat sie deshalb ein Training für Programmierer*innen begonnen. Sobald sie sich gut in ihrem neuen Berufsfeld zurechtfindet, wäre sie bereit, nach Georgien auszuwandern.

Doch da ist noch die Familie. Wie viele georgische Familien legt auch die von Leanna viel Wert auf Zusammenhalt. »Wir haben die Möglichkeit, nach Georgien zu ziehen, schon diskutiert und gemerkt, dass wir dafür noch nicht bereit sind. Das ist alles nicht so einfach. Vielleicht ist es für die Familie besser, noch eine Weile in Moskau zu bleiben.« Doch selbst wenn die Bedingungen für die Migration stimmen würden. Moskau zu verlassen, würde Leanna nicht leicht fallen. »Ich liebte und liebe Moskau. Viele Kindheitserinnerungen hängen mit der Stadt zusammen.«

Außerdem könnte Georgien das nächste Opfer einer russischen Aggression werden, sorgt sich Leanna. Zuletzt hatte Russlands Ex-Präsident und neuer Top-Kriegstreiber des Kremls Dmitri Medwedew immer wieder dem Land gedroht. Da schlägt Leannas russisch-georgisches Pendel eindeutig Richtung Georgien aus. »Ich glaube, wenn Russland Georgien attackiert, würde ich dorthin gehen und das Land beschützen. Manchmal muss man sich einfach für eine Seite entscheiden.«

Doch solange sich die Lage nicht rapide verschlechtert, bleiben Leanna und ihre Familie in Moskau. Sie lesen gerade gemeinsam George Orwells »1984«. »Wenn das Leben hier uns zu sehr an das Buch erinnert, werden wir Russland verlassen«, scherzt sie trocken. Trotz des Galgenhumors, der sich durch das Gespräch zieht, merkt man: Der Krieg in der Ukraine mit all seinen Hintergründen geht der jungen Frau sichtlich nahe. Immer wieder ringt sie um Worte und erwähnt dann kopfschüttelnd, wie geschockt sie von allem sei.

Wann dieser Zustand vorbeigeht und wieder Normalität einkehrt, ist unklar. Leanna hofft auf den militärischen Erfolg der Ukraine mit Unterstützung der westlichen Staaten. Oder – auch wenn es sich hart anhört – auf den Tod Wladimir Putins. »Im Moment können wir nur warten und beobachten«, stellt sie fest. Wenn die Zeit reif ist und sie noch in Moskau wohnt, will sie sich engagieren für ein freies, neues Russland. »Ich bin motiviert. Das ist ein guter Zweck. Da will ich mitmachen.«

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