Der Linken-Bremser

Die Ampel ist keine Fortschrittskoalition mehr. Zum Glück kann man mit dem Finger aufeinander zeigen

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Lichtfigur der Liberalen: Finanzminister Christian Lindner
Die Lichtfigur der Liberalen: Finanzminister Christian Lindner

Kein Stäubchen duldet Christian Lindner auf seinem Bild in der Öffentlichkeit. Jede Geste wohlkalkuliert, jeder Satz druckreif. Hemd und Jackett sind ein Muss, quasi ein Versprechen: Der Bundesfinanzminister und FDP-Chef wahrt die Form, komme, was da wolle. Elitär geht Lindners Welt zugrunde.

Dennoch hat Christian Lindner den scheinbar auf ewig vorbestimmten Weg der FDP als Juniorpartner der Unionsparteien im vergangenen Jahr beendet. Er hat sich an die Seite zweier Parteien manövriert, die er zuvor als politische Gegner bekämpfte. SPD und Grüne – zu anderen Zeiten hätte man in der FDP womöglich von einer politischen Schmuddelecke gesprochen, in der Lindner sich hier niedergelassen hat

»Wir sind die schwierige Koalition mit zwei linken Parteien eingegangen, weil die Realitäten es von uns forderten«, begründete er dies im Sommerinterview der ARD so gedrechselt wie nichtssagend. Lindner fühlt sich sichtlich wohl in seiner Rolle als Retter des Abendlandes im Ministersessel. Gerade mal 43 Jahre alt, hat er es geschafft. 2013 übernahm er die FDP als Trümmerhaufen, führte sie als Verein Lindner erfolgreich durch mehrere Wahlen und wurde zuletzt neben den Grünen das Zünglein an der Waage bei der Regierungsbildung im Bund.

Kaum einfallen würde Lindner dabei, von einer sozialliberalen Koalition zu sprechen. Dieses erste politische Bündnis der Liberalen mit der SPD im Bund dauerte von 1969 bis 1982, also 13 Jahre. Die Zeiten waren andere, und die Grünen gab es noch gar nicht. Auch die Umstände der Regierungsbildung lassen sich nicht vergleichen. Von einer »Liebesheirat«, von der damals dank des guten Verhältnisses zwischen Willy Brandt und Walter Scheel geschwärmt wurde, war diesmal nichts zu sehen.

Die Erinnerung an die sozialliberale Koalition kann trotzdem hilfreich sein. Vor allem an ihre letzten Jahre, in denen Kanzler Helmut Schmidt mit der renitenten FDP seine Probleme hatte, die soziale Einschränkungen wie zum Beispiel Kürzungen des Kinder- und des Arbeitslosengeldes forderte. Im Angesicht wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmender internationaler Spannungen wurden die Liberalen unter Hans-Dietrich Genscher erst nervös, dann wortbrüchig und schließlich abtrünnig. Noch häufiger als mit der FDP aber geriet der Kanzler damals dem Vernehmen nach mit seinen eigenen Leuten aneinander, die an sozialdemokratischen Positionen festhielten, während ihm die wirtschaftsliberalen Haltungen der FDP oft eigentlich nicht unsympathisch waren.

So weit ist es noch lange nicht. Finanzminister Lindner sorgt für die finanzielle Absicherung von Krisenentlastungspaketen und vertritt diese als Beitrag zur Entlastung der Bürger, den die Bundesregierung gemeinsam beschlossen habe. Doch die Harmonie ist trügerisch. Während Christian Lindner im ARD-Sommerinterview glatte Formulierungen über die Differenzen bügelt, kann er es doch nicht leugnen: Der Lack blättert.

Nur ein paar Monate ist es her, dass SPD, Grüne und FDP als Fortschrittskoalition gestartet waren. Das ist vorbei. Corona-Pandemie, Wirtschaftsflaute und Inflation, die Umstände des Regierens waren nicht alle in ihrem Umfang voraussehbar. Doch die Regierung gerät auch unter den Druck der von ihr selbst unter Druck gesetzten Gesellschaft.

Die Beteiligung am Niederringen Russlands in der Ukraine durch Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens, bei der Deutschland erneut in eine Führungsrolle gedrängt wird, lässt die Energiekrise für viele in eine Existenzkrise münden. Nun versucht eine Krisenkoalition, den Laden am Laufen zu halten und opfert dabei, was bisher als essenziell für den Fortschritt galt. Klimaziele treten in den Hintergrund, und eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken ist plötzlich ebenso normal wie das Betteln um Flüssiggas bei Diktatoren. Und Fracking ist beinahe ebenso in Ordnung wie Petting.

Christian Lindner hat nun ein besonderes Problem. Denn an den Finanzen, über die er eben noch zu herrschen schien, scheiden sich die Geister am stärksten. Aus dem heißen Typen mit der Macht über das Geld ist der Mann auf dem heißen Stuhl geworden. Die Frage aller Fragen in der Krise lautet: Was wird uns das alles kosten?

Und so fällt Lindners Name zuerst, wenn die veröffentlichte Meinung jetzt die Fehler der Regierung identifiziert. Er sei der Bremsklotz für eine soziale Bewältigung der Probleme, ist immer wieder zu hören, er bestehe auf unzeitgemäße Sparsamkeit. Tatsächlich allerdings scheinen die Koalitionspartner sich bei der Bewertung der Ereignisse und ihrer Ursachen bisher erstaunlich einig zu sein. Worin sie sich unterscheiden, ist die Bewertung der sozialen Folgen, die daraus entstehen. Und der Maßnahmen, die sie erfordern. Bei sieben Prozent liegt die FDP derzeit in den Umfragen. Wenn sie unsicher werden, besinnen sich die Menschen auf ihre Grundüberzeugungen. Das gilt auch für Liberale.

Also geht Lindner auf Abstand zu den Koalitionspartnern – so weit, wie Contenance und Koalitionsdisziplin es ihm gestatten. Nahezu jeden Tag gebe es von den Grünen und von Teilen der SPD den Versuch, den Koalitionsvertrag zu verändern und die Politik in Deutschland weiter nach links zu rücken, beklagt er sich öffentlich. Und macht alternative Vorschläge. Er huldigt der »Mitte der Gesellschaft« und nennt es »Kurs halten«: Das dritte Entlastungspaket, das die Bundesregierung angekündigt hat, soll vor allem Steuerungerechtigkeit für die Mittelschicht beseitigen. Vor allem: Die Schuldenbremse muss wieder gelten. Lindners jüngster Vorstoß verlagert die Debatte auf ein neues Gleis: Geldwäsche. Die will er bekämpfen, mit einer neuen Bundesbehörde.

Die Differenzen sind offensichtlich und auch gefährlich für die Koalition. Denn es warten noch Ziele, die gar keine gemeinsamen Ziele sind. Beispiel ist das Bürgergeld, das im Koalitionsvertrag steht. Es soll Hartz IV ablösen, was der FDP grundsätzlich nicht schmeckt. An der Höhe der Regelsätze und der Frage, ob ihre Berechnungsgrundlage verändert wird, wird sich erst entscheiden, was das Ganze den betroffenen Menschen bringt.

Auch dass die Koalition so kurz vor Auslaufen des auf drei Monate begrenzten 9-Euro-Tickets noch keinen Plan hat, wie es damit weitergehen soll, zeigt ihre Zerstrittenheit. Klar geht es wieder ums Geld. Die Grünen nutzen die Gelegenheit und wollen das Dienstwagenprivileg abschaffen. Die Bevorteilung einer privilegierten Gruppe soll durch eine Steuererhöhung in bare Münze für den Staatsetat verwandelt werden und in eine Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket fließen.

Doch da müssen sie an Christian Lindner und seinem Verkehrsminister Volker Wissing vorbei. Lindner zeigt bei solcher Gelegenheit nebenbei, dass sich unter glatter Oberfläche ein rauer Kern verbergen kann. Demonstranten, die eine Fortsetzung des 9-Euro-Tickets forderten, bezichtigte er beiläufig, von der Antifa vor die FDP-Zentrale geschickt worden zu sein. Und die Vorstellungen zur Abschaffung des Dienstwagenprivilegs bauen nach seiner Meinung auf Ressentiments auf. Über ein »linkes Framing« wetterte er da auf einer Bürgerveranstaltung: »Reiche. Haben einen Dienstwagen. Ein Privileg, kriegen noch Geld vom Staat.« Am Ende solle das Gefühl entstehen: »Oh, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.«

Mancher mag sich erinnert fühlen an Hader und Missgunst in der sozialliberalen Koalition von einst, wenn Christian Lindner Feindbilder aus dem Hut zaubert, die selbst einem vorgefertigten Weltbild folgen, einem rechten Framing, wie man mit seinen Worten sagen könnte. Doch so heiß gegessen wird auch in der Ampelkoalition nicht, was ihre Chefköche öffentlichkeitswirksam anrühren.

»Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.« Mit dem bekannten Satz aus früheren Tagen wurde Olaf Scholz auch in der Zeit nach der Bundestagswahl zitiert. Um zu zeigen, dass das bedächtige Auftreten des heutigen Bundeskanzlers nicht mit Schwäche verwechselt werden sollte. Und so kann der Bundeskanzler darauf bauen, dass Christian Lindner mit seiner Beschwörung einer linken Übermacht in der Koalition jedenfalls nicht auf ihn zielt. Dennoch wird Scholz Lindners Zeichnung der Koalitionsverhältnisse kaum widersprechen – er wie auch viele Politiker von SPD und Grünen können gut damit leben, als »links« bezeichnet zu werden, weil damit Kritikern von links der Wind schon halb aus den Segeln genommen ist. Obwohl Linke ihre Vorstellungen einer gerechten und freien Gesellschaft von dieser Koalition meist nicht einmal im Ansatz vertreten sehen. Der aus Protest angekündigte heiße Herbst zeugt davon.

Am Ende wird sich die Koalition in Streitfragen auf Kompromisse einigen oder die Antwort vertagen. Zwar hat das Wirtschaftsministerium einen Bericht des Handelsblattes dementiert, demzufolge ein Deal hinter den Kulissen den Streit zwischen Grünen und FDP um das Dienstwagenprivileg längst beendet hat, während die Protagonisten noch auf offener Bühne Ohrfeigen austauschen. Vereinbart worden sei, das Privileg nicht abzuschaffen – gegen eine vorzeitige Beendigung der Subventionen für Fahrzeuge mit Plug-in-Hybridantrieb. Auch wenn dieser Bericht sich nicht bestätigen sollte, wird es am Ende eine Lösung geben, die allen Seiten hilft das Gesicht zu wahren.

Bundeskanzler Scholz scheint an diesem Streit gar nicht beteiligt zu sein, was seinem Satz von der Führung nicht widersprechen muss. Wo Differenzen in Kompromissen ausgeräumt werden, hat die Koalition ihr Funktionieren bewiesen. Dafür zu sorgen, muss Kernkompetenz des Bundeskanzlers in einer solchen Koalition sein. Dann kann Führung freilich auch gelingen, wenn nichts gelingt. Ohnehin geht es Olaf Scholz manchmal vielleicht wie damals Helmut Schmidt. In Forderungen des Finanzministers nach Einhaltung der Schuldenbremse kann der einstige Miterbauer der Agenda 2010 seine eigenen Anschauungen im Grunde nur bestätigt finden. Und in Kompromissen, die eine gänzliche Abschaffung von Hartz IV verhindern, letztlich auch. So weit liegen Lindner und seine »linken« Koalitionspartner eben nicht auseinander.

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