- Kommentare
- Winnetou und Ravensburger Verlag
Bedenkliche Geschichtsklitterung
Der Ravensburger Verlag hat Winnetou-Bücher vom Markt genommen. Das ist feige, meint Björn Hayer
Und wieder einmal wiederholt sich Geschichte: Ein Werk mit durchaus umstrittener Traditionsgeschichte wird neu aufgelegt und schon melden sich Bedenkenträger*innen zu Wort. Nachdem bereits Texte wie der Struwwelpeter oder Klassiker von Wilhelm Busch unter die Lupe von sich für Antidiskriminierung einsetzenden Analytiker*innen genommen wurden, hat es nun den Ravensburger Verlag erwischt. Dieser hatte ein Jugendbuch ab acht Jahren unter dem Titel »Der junge Häuptling Winnetou« herausgeben wollen, samt einem Puzzle und Stickerbuch, sah sich aber angesichts negativer Resonanz einiger Leser*innen dazu gezwungen, die Lizenzpublikationen zurückzunehmen.
Was die Kritiker*innen zu ihrem Ansturm bewegt hat, ist nicht überraschend, nämlich koloniale Klischees. Klar, wer einmal die Schmöker von Karl May gelesen oder die dazu gehörige Filmreihe gesehen hat, weiß, dass es sich bei der Darstellung insbesondere der Indigenen um alles andere als dokumentarisch verbürgte Wahrheiten handelt. Schnell wird in einem solchen Fall aus heutiger Warte einem Autor eine rassistische Einstellung attestiert, die dann die Gefahr birgt, auf entsprechende Verlage abzufärben.
Ungeachtet der inhaltlich zweifelsohne zutreffenden Vorwürfe, was Stereotypen vom »rothäutigen Indianer« anbetrifft, muss allerdings die Frage nach den angemessenen Mitteln erlaubt sein. Denkt man den Ansatz der Echauffierten weiter, so müsste man eigentlich einen nicht geringen Teil der Literaturgeschichte bereinigen. Dies beträfe allen voran das Genre, dem »Winnetou« zuzuordnen ist, das schon per se klischeeüberladen ist, nämlich jenes des Abenteuerromans. Man müsste den Archetypus »Robinson Crusoe« wegen der Unterdrückung des »schwarzen« Gehilfen Freitag durch den titelgebenden weißen Heldentypus verbieten. Man müsste »Die Schatzinsel« aus den Programmen nehmen, da sie das Klischee vom stumpfsinnigen Piraten verbreitet und überdies Gewalt als legitimes Instrument zur Interessensdurchsetzung beschreibt. Aber auch Vertreter*innen der sogenannten Hochkultur müssten vom Sockel gestoßen werden. Schillers »Kabale und Liebe« oder Lessings »Emilia Galotti« – no way, in beiden Texten dominieren patriarchale Muster. Gleiches gilt natürlich für Goethes »Faust«, der, nimmt man sonst allen wichtigen geistigen Überbau vom Protagonisten weg, letztlich als ein reueloser Vergewaltiger zurückbleibt. Nur was wäre dadurch gewonnen?
Den geradezu schleifenartigen Empörungswellen angesichts eines von Ismen und Ideologien überlasteten Kanons wohnt ein seltsames Paradox inne: Obgleich ihre Repräsentanten, zumeist versammelt und konzertiert auf den sozialen Netzwerken, dazu mahnen, sich die historischen Ursprünge von Rassismus, Sexismus und Chauvinismus (Speziesismus wird meist vergessen, weil Eingriffe in die Ernährung doch zu sehr die Freiheit des Einzelnen unterwandern) zu vergegenwärtigen, muten ihre Lösungsansätze ahistorisch an. Marktrücknahmen, gar Streichungen aus den Bildungs- und Lehrplänen, schaffen keine nachhaltige Auseinandersetzung mit den kruden, menschenverachtenden Theorien. Sie verhindern sie. Gerade Jugendlichen vermittelt sich dann kein Bewusstsein mehr für die Genese von zumeist westlichen Repressionsstrategien. Dabei erweist sich doch zuvorderst das Wissen um das Zustandekommen von faschistischem Gedankengut als zentral, um das Hier und Heute zu verstehen.
Dass man jedoch Winnetou und andere Unterhaltungsprosa aktuell nicht mehr unvoreingenommen lesen kann und soll, versteht sich von selbst. Nur wäre zur Sensibilisierung ein anderes Vorgehen als das letztlich feige des Ravensburger Verlags ratsam gewesen. Zielführend dürften zukünftig Einordnungen sein. Von ausführlichem Begleitmaterial bis hin zu Fußnoten reicht das Spektrum der Möglichkeiten, problematische Stellen in Texten zu benennen und mit reichlich historischem Hintergrund zu kommentieren. Diese Taktik birgt den Vorteil, verschriftlichte Diskriminierung nicht zu verdrängen, sondern erst aufzuzeigen. Genau so macht man auf verkrustete Strukturen aufmerksam. Aber man muss sich, verehrter Ravensburger Verlag, der Diskussion eben auch mit etwas Souveränität stellen wollen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!