- Politik
- Zum Tod von Michail Gorbatschow
Ungeliebter Visionär
Michail Gorbatschow hat ohne Absicht den Westen begeistert und seine Landsleute ins Verderben gestürzt
Zuerst fiel an dem Mann das Muttermal ins Auge. Auf der hohen Stirn schien es einem Kontinent gleich die weltoffene Sicht seines Trägers zu symbolisieren. Aber dieser Impuls des Betrachters war bereits Ergebnis der öffentlichen Auftritte des sowjetischen Staatsmannes, seines erstaunlichen Wirkens, nachdem er 1985 Generalsekretär des ZK der KPdSU und damit mächtigster Mann der Sowjetunion geworden war. Im Land war er der Erneuerer ebenso, wie er international den Impuls zu Abrüstung und Entspannung setzte.
Michail Gorbatschow hatte schnell die Hoffnungen vieler Menschen geweckt. Nicht nur wegen seines im Vergleich zu seinen Vorgängern jugendlichen Alters von 54 Jahren flogen ihm die Herzen zu. Sondern weil Gorbatschow ein völlig ungewohntes Auftreten zeigte. Offen, analytisch, offenkundige Missstände beim Namen nennend – damit schlug er völlig aus der Art, die man von Parteikadern kannte.
In der DDR-Führung war Gorbatschow weder mit seinem Stil noch den erklärten Zielen wohlgelitten. Während Tausende Kehlen in einem FDJ-Zug zum 40. Jahrestag vor der Staatsführung in Berlin dem anwesenden »Gorbi« zujubelten, pflegte Erich Honecker versteckt sein Misstrauen. Die SED-Führung sprach von einem Tapetenwechsel der Moskauer Politik, den man seinen Nachbarn nicht nachahmen müsse. Die Verunsicherung in Berlin war mit Händen zu greifen.
Tatsächlich vergingen nach Gorbatschows Amtsantritt nur noch sechs Jahre, bis das scheinbar eherne System der sozialistischen Staatengemeinschaft zusammenbrach. Weder wirtschaftlich im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe noch politisch und militärisch im Warschauer Vertrag war das Kraut gewachsen, den Zusammenbruch aufzuhalten. Und Gorbatschow war der Auslöser des Zusammenbruchs. Freilich ohne dies gewollt zu haben.
Die von ihm verkündeten Reformprogramme von Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umbau) hatten einen historischen Augenblick lang das drängende Gefühl auf einen politischen Nenner gebracht, das viele Menschen im Osten umtrieb – eine Veränderung des erstarrten Systems war dringend nötig. Doch reale Pläne, eine belastbare Strategie hatte Gorbatschow nicht. Heute ist er der Mann, der den letzten vergeblichen Versuch einer Rettung des Systems unternahm – oder wahlweise der Verräter, der den Stecker zog und es dem Klassenfeind auslieferte. Im Westen gilt er den meisten dafür als Held.
Ein Alkoholverbot, mit dem Gorbatschow seine Amtszeit begann und mit dem er der verbreiteten Trunksucht in seinem Land Einhalt gebieten wollte, mag heute als Omen seiner gesamten Mission gelten. Angetreten, die Welt besser zu machen, ist er an den irdischen Realitäten gescheitert. Glasnost und Perestroika führten nicht zum Erblühen des Sozialismus, nicht zu einem besseren Leben, nicht zu wirklicher Freiheit. Das aber waren seine erklärten Ziele. Stattdessen gingen Unsicherheit und Chaos mit wachsendem Nationalismus einher, die Ukraine und die baltischen Republiken strebten nach Unabhängigkeit. Auch die Machtgelüste von Parteiführern in den Sowjetrepubliken erschütterten den Zusammenhalt der UdSSR.
Die Bewertung, die Gorbatschow heute im Westen zuteil wird, schert sich nicht um die enttäuschten Hoffnungen von Russen oder anderen ehemaligen Sowjetbürgern. Hier zählt vor allem seine Wirkung auf das Verhältnis der beiden Militärblöcke, die sich, damals jederzeit bereit zur gegenseitigen Vernichtung, unversöhnlich gegenüberstanden. Mehrere Abrüstungsverträge, die Reduzierung der Atomwaffenarsenale, neue Mechanismen zur Vertrauensbildung waren tatsächlich Ergebnisse, die die Welt sicherer machten und deshalb bis heute nicht hoch genug eingeschätzt werden können. 1990 erhielt Gorbatschow den Friedensnobelpreis.
Mit seiner Idee zur Schaffung eines gemeinsamen Hauses Europa, mit einseitigen Abrüstungsschritten der Sowjetunion und mit einem kritischen Blick auf die eigene Geschichte löste Gorbatschow nicht zuletzt in den USA Begeisterung aus, die eigenen Interessen folgten. So wurde aus der gemeinsamen Feststellung, die Gorbatschow und USA-Präsident George Bush am 2. und 3. Dezember 1989 in Malta trafen, dass nämlich der Kalte Krieg nun beendet sei, schnell die Überzeugung des Westens, dieser sei nicht nur beendet, sondern gewonnen.
Dieser Überzeugung folgte eine Politik, einschließlich der Ostausdehnung der Nato, die inzwischen ein Grund für die erneut gewachsenen Spannungen gegenüber Russland geworden ist. Ein neues Haus Europa blieb Illusion. Russland zog auch nicht ins alte. Gorbatschow mochte dafür jede Verantwortung zurückweisen; der Boden wurde dennoch damals bereitet. Nicht zuletzt mit der deutschen Vereinigung, denn zwischen beiden Staaten lag die Grenze der Militärsysteme.
Damals, 1989, existierte der Warschauer Vertrag. Gorbatschows Zustimmung machte möglich, dass der Mauerfall vom 9. November im folgenden Jahr in ein Beitrittsverfahren der DDR mündete, das auch die Zustimmung der Westmächte erhielt. Gorbatschow selbst hat die Behauptung als Mythos zurückgewiesen, dass ihm damals ein Verzicht der Nato auf Osterweiterung zugesichert worden sei. Sicher ist allerdings, dass BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher eine solche Zusicherung für das Gebiet der DDR zunächst getroffen hatte, als der Status der DDR noch auf der Kippe stand. Es wirkt fast, als sei dies Gorbatschow später eher als Bagatelle in Erinnerung geblieben. Oder schon damals als Bagatelle behandelt worden.
Gorbatschow, der 1991 von einem Trunkenbold namens Boris Jelzin vor putschenden Altkadern und Armeeführern gerettet, damit aber quasi entmachtet wurde, weil er dem neuen Konkurrenten nicht gewachsen war und ihm das Präsidentenamt überlassen musste, hat danach weiter in seinen Vorstellungen von einer besseren Welt gelebt. Und das nicht schlecht. Hans Modrow, der vorletzte Ministerpräsident der DDR und langjährige Alterspräsident der Linken, verwies in einem Interview darauf, dass der Westen in den Wirren der Wende nicht untätig war. Bei der Gelegenheit verwies er auf Gorbatschows Villa nahe Moskau. Nicht der russische Staat habe ihm die überlassen. Auch in Deutschland, wo Gorbatschows Tochter am Tegernsee bis 2019 eine Villa besaß, hielt sich Gorbatschow gern auf.
Der ehemalige Präsident rief nach seinem Rücktritt eine Stiftung ins Leben, werkelte wenig erfolgreich in mehreren sozialdemokratischen Parteien seines Landes, engagierte sich im Umweltschutz und für globale Menschenrechte und schrieb mehrere Bücher.
Es war ein bewegtes Leben, das am Dienstag in einem Moskauer Krankenhaus zu Ende ging. Mit 91 Jahren gesundheitlich beeinträchtigt und nach den Worten eines Vertrauten seit Monaten in einer Klinik, hatte er sich zuvor oft politisch zu Wort gemeldet. In dem Maße, wie er sich kritisch über USA und Nato äußerte und Zustimmung zur Politik von Wladimir Putin vernehmen ließ, sank die Aufmerksamkeit für ihn. So hatte Gorbatschow zwar Kritik an der Machtausdehnung Putins, an seinem undemokratischen Vorgehen geübt, ihn aber für die Stärkung Russlands gelobt, nachdem Boris Jelzin »vieles zerschlagen« habe. 2014 hatte Gorbatschow zudem Verständnis für die Annexion der Krim deutlich gemacht und das Referendum verteidigt, das Moskau zu seiner Legitimation organisiert hatte. Den Krieg gegen die Ukraine verurteilte Gorbatschow nach Aussagen des ungarischen Fernsehproduzenten Janos Zolcer scharf.
Versäumnisse, Gutgläubigkeit oder Naivität – schwer zu sagen, woran Michail Gorbatschow gescheitert ist. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hat, ist nur die letzte Station dieses Scheiterns. Gorbatschow ist nicht schuld an diesem Krieg, der am Ende einer Entwicklung steht, deren Anfang er vor rund 30 Jahren einläutete. So wenig, wie er das arrogante Vorgehen des Westens zu verantworten hat, wiewohl er ihm die vermeintliche Überlegenheit quasi beglaubigt hat.
Immer dürfte Michail Gorbatschow die Erinnerung wecken an eine Zeit, in der Aufbruch zu besseren Zeiten für alle möglich schien. Und Inspiration sein für Menschen, die etwas Unmögliches für möglich halten und deshalb in Angriff nehmen.
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