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Flache Gewässer

Leichte Unterhaltung mit Boddenblick: Alljährlich locken die Rügener Störtebeker-Festspiele

Etwas viel Pathos: Wolfgang Lippert bei den "Störtebeker-Festspielen"
Etwas viel Pathos: Wolfgang Lippert bei den "Störtebeker-Festspielen"

Zwei lange Corona-Jahre musste das treue Stammpublikum seinen »Störti« missen, wie Kenner liebevoll die Störtebeker-Festspiele in Ralswiek auf der Tourismusinsel Rügen nennen. Wer es in diesem Sommer zu »Im Angesicht des Wolfes« geschafft hat, der wird bemerkt haben: So sehr anders als vor der Pandemie war es auch dieses Mal nicht.

Auf der gut ausgelasteten Freiluftbühne wird Unterhaltung geboten mit Greifvögeln, inszenierten Schlägereien à la Bud Spencer, derbem Humor, einem bisschen Peng-Peng und einer hanebüchenen Geschichte. Wenn sich die genügsame wie geneigte Zuschauerschaft dann zum Schlussapplaus bequemt hat, dann erst folgt das wahre Spektakel: ein Feuerwerk über dem Wasser. Begeisterung allenthalben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das vorherige Schauspiel sei nur eine leidige Überbrückung, bis die Sonne untergegangen ist und die Raketen gezündet werden können. Mehr braucht es offenbar nicht, zumal im Sommerurlaub.

Das war keineswegs immer so. Als die Naturbühne 1959 errichtet worden war, fanden dort erstmals die »Rügenfestspiele« statt, die sich um den Piraten Klaus Störtebeker drehten, der in dem kleinen Fischerdorf Ralswiek zur Welt gekommen sein soll. Es gibt wohl keinen Rüganer, der niemanden kennt, der an den zwischen 1959 und 1961 stattgefundenen und 1980/81 wiederbelebten »Rügenfestspielen« in irgendeiner Weise beteiligt war.

Das Open-Air-Spektakel stand unter der künstlerischen Leitung von dem berühmt-berüchtigten und auch gefürchteten Regisseur und Intendanten Hanns Anselm Perten. Das Volkstheater Rostock stand Pate und entsendete seine Spieler auf die Insel. Kooperationen suchte man mit lokalen Tanz- und Chorgruppen. Professionelle Künstler und engagierte Laien schufen gemeinsam ein Massenspektakel. Dazu schrieb der DDR-Staatsdichter KuBa den Text, den er eine »dramatische Ballade« nannte. Die literarische Qualität des Stücks ist durchaus überzeugend.

Rückblickend werden die damaligen Inszenierungen häufig bloß als Beispiel einer beschränkten sozialistischen Kunstauffassung denunziert. Die Zeugnisse dieser Theaterarbeiten und Publikumsberichte sprechen allerdings eine andere Sprache. Was nicht bedeuten soll, dass die Geschichte um Störtebeker, den Freibeuter mit der richtigen Klassenherkunft, und seine »Likedeeler« – »Gleichteiler« würde man auf Hochdeutsch heute sagen – nicht gut in Zeit- und Weltbild gepasst hätten. Klaus Störtebeker wird nicht zu Unrecht der »Robin Hood der Meere« genannt, der sich als sympathischer Rebell bis heute großer Beliebtheit erfreut.

Vor allem aber war der Versuch, den Perten und KuBa unternahmen, auch ein Experiment in Sachen unterhaltsames und dennoch nicht anspruchsloses Volkstheater, an das man durchaus Anschluss suchen könnte. Die Verbindung von regionalem Charme und großer Geschichte, von Involvierung lokaler Akteure und hohem Kunstanspruch ist einnehmend.

Dennoch: Bis zum Ende der DDR waren die theatralen Großaufgebote am Bodden fast vergessen, und der findige Peter Hick, zuvor bei den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen tätig, profitierte von dem Ausverkauf des untergegangenen Staates. Er schlug zu und verhandelte mit Investoren. Seit 1993 ereignen sich die Störtebeker-Festspiele nun auf Rügen. Knapp drei Monate im Jahr wird gespielt, sechs Tage die Woche. Eine kraftraubende Agenda für alle Beteiligten.

Die Sagen um Störtebeker, von seinem Kampf gegen die Hanse und seiner spektakulären Hinrichtung, werden fortgeschrieben. Dabei machen sich dramaturgische Defizite durchaus bemerkbar. Dem Publikum will man alljährlich etwas Neues bieten, doch ganz neuen Stoffen sich wiederum auch nicht öffnen. Ein »Faust« sei hier in den 60er Jahren geplant gewesen, heißt es. Heute will man den Dauerbrenner Klaus Störtebeker jedes Jahr neu erfinden, mal in Russland, mal in Norwegen.

Und so fügen sich alljährlich wiederkehrende Versatzstücke mit neuen Piratengeschichten zusammen. Dass ein Großteil der Rollen mit Laien bis Semiprofessionellen besetzt wird, schmälert das Vergnügen zusätzlich. Einen derartig großen und offenen Bühnenraum bespielt man nicht ohne Weiteres.

Einer, der hier schon seit über 20 Jahren mitwirkt, ist Wolfgang Lippert. Erst war er ein Schlagerbarde des Ostens (»Erna kommt«), dann wirkte er im wiedervereinigten Deutschland als Untoter des Fernsehens (»Wetten, dass..?«). Nun steht er Jahr für Jahr in Ralswiek auf der Bühne und sorgt für musikalische Intermezzi – in diesem Sommer im auffälligen orangefarbenen Mantel. Ein solches Übermaß an Pathos ist nicht immer leicht zu ertragen.

Man wagt sich auch in diesem Jahr bei »Im Angesicht des Wolfes« aus Unterhaltungsgründen ins Frech-Frivole vor und wirkt dabei seltsam verklemmt. Ein paar anstößige Witzchen sollen es schon sein für das erwachsene Publikum, aber dann doch lieber nur als augenzwinkernde Zweideutigkeit, damit die zahlreichen anwesenden Kinder nicht geschädigt werden. So wurde in diesem Jahr, in dem ein Teil der Handlung in Amsterdam spielt, auch die Figur der Puffmutter auf die Freilichtbühne gestellt. Die schickt ihre Jungs, Seeräuber mit Testosteronüberschuss, dann also erst einmal in die Ställe, wo die Stuten zugeritten werden sollen. Der Verzweifelten Weisheit, Humor sei, wenn man trotzdem lacht, entfaltet in diesem Fall leider keine Wirksamkeit.

Was einen dann doch fast versöhnt mit der leichten Muse unter der Piratenflagge ist dieser unverwechselbar schöne Ort. Wenn einen das Bühnengeschehen ermüdet, kann man den Blick schweifen lassen: auf den Bodden, auf den dahinter gelegenen Wald. Es hat etwas Beruhigendes, den Schiffchen zuzusehen, wie sie sich auf die Bühne bzu bewegen, bevor die nächste Kampfszene dargeboten wird.

Auf Rügen ist man – zu Recht natürlich – stolz auf die wundervolle Landschaft. Stolz ist man auch auf »Störti«. Den freundlichen Insulanern und ihren Gästen wäre allerdings doch noch ein theatrales Vergnügen zu wünschen, das sich nicht nur zwischen Sagenwelt und Boulevard bewegt. Auch ein »Störtebeker« auf der Freilichtbühne darf es selbstredend sein, aber vielleicht einer, der das Publikum auch überrascht und fordert. »Gottes Freund und aller Welt Feind« lautete der Leitspruch dieses Freibeuters. Da könnte man sich, meine ich, auch ein wenig mehr künstlerischen Eigensinn erlauben. Vielleicht beim nächsten Mal. »Gotland unter Feuer« heißt das Abenteuer 2023.

Weitere Vorstellungen bis 10. September
www.stoertebeker.de

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