Eine schwere Last

Trotz Rekordeinnahmen des irakischen Staats liegen weiterhin Teile des Landes in Trümmern. Immer mehr Gruppen fordern Neuwahlen

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 6 Min.

In Bagdad bleibt die Lage unübersichtlich und gefährlich. Nach den Gefechten Anfang dieser Woche scheint zwar wieder Ruhe eingekehrt zu sein in der irakischen Hauptstadt, aber immer wieder kommt es im Irak zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Milizen. In der Stadt Basra im Süden des Landes wurden dabei mindestens vier Menschen getötet, wie Augenzeugen und irakische Medien am Donnerstag berichteten. Den Sicherheitskräften zufolge war die Lage dann wieder unter Kontrolle. Mehrere Menschen seien festgenommen worden.

Doch den Demonstranten geben die Auseinandersetzungen weiteren Antrieb. Auf der einen Seite stehen die Unterstützer des schiitischen Predigers Muktada Al-Sadr, dessen politisches Bündnis »Saairoun« bei der Parlamentswahl im Oktober 2021 die meisten Sitze errungen hatte. Auf der anderen Seite kämpfen schiitische Milizen, die nach eigenen Aussagen ein pro-iranisches Bündnis im Parlament unterstützen wollen.

Militär und Polizei haben versucht, beide Gruppen mit Schüssen und Tränengas auseinander zu treiben, weg vom Parlament, vom Sitz der Justiz, vom Regierungsgebäude, die in den vergangenen Wochen mehrfach gestürmt worden waren. Mindestens 23 Menschen waren nach Angaben des Roten Halbmondes bis Donnerstagmorgen ums Leben gekommen, fast alle erschossen.

Wo die Amtsinhaber derzeit ihren Aufgaben nachgehen, wollen Sprecher von Regierung und Militär nicht sagen, außer dass das Land natürlich auch in der Krise ordnungsgemäß regiert werde. Denn in der US-Botschaft, der größten weltweit, bei der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und den Vereinten Nationen ist man sehr besorgt, warnt davor, dass der Irak zum »gescheiterten Staat« werden könnte. Und als Energielieferant ausfallen könnte.

Es ist eine widersprüchliche Situation: Die gestiegenen Rohstoffpreise, der erhöhte Bedarf an nicht aus Russland stammenden fossilen Brennstoffen haben dem irakischen Staatshaushalt Rekordeinnahmen eingebracht. Nach Angaben des Finanzministeriums wurden allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 100 Milliarden Euro eingenommen.

Gleichzeitig sind die Preise für Nahrungsmittel exorbitant gestiegen, während die überwiegend aus Kleinunternehmen bestehende Wirtschaft am Boden liegt. Sie ist traditionell eng mit der iranischen Wirtschaft verwoben, regelrecht von ihr abhängig.

Doch im Mai 2018 setzte US-Präsident Donald Trump die US-Sanktionen gegen den Iran wieder in Kraft und forderte von der irakischen Regierung, dass sie auch in ihrem Land für die Einhaltung der Sanktionen sorgt. Und auch die Russland-Sanktionen soll der Irak nun einhalten – eine schwere Last, die dadurch erschwert wird, dass Teile des Landes in Trümmern liegen, mindestens aber eine Kernsanierung brauchen.

Beispiel Mosul: Die einst zweitgrößte Stadt des Landes wurde vor fünf Jahren von einer Allianz aus Militär, kurdischen Peschmerga und einem Milizenverbund mit amerkanischer Unterstützung vom Islamischen Staat befreit. Zurück blieb ein Ort, der an das Berlin im Jahr 1945 erinnert und dessen Wiederaufbau nur sehr langsam in Gang kommt. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben fast alle Menschen hier unter der Armutsgrenze und mit unzureichender medizinischer Versorgung. Viele sind weggezogen.

Beispiel Basra: In der im Süden gelegenen drittgrößten Stadt sind einige der größten Ölfelder in greifbarer Nähe, doch deren Reichtum scheint unerreichbar. Jahrelang bezog man hier Strom aus dem Iran; seit der nicht mehr fließt, bleiben die Kühlschränke und die Klimaanlagen die meiste Zeit des Tages aus – bei Temperaturen, die im Sommer durchaus über 45 Grad liegen können. Aus den Wasserhähnen fließt eine braune, ungenießbare Plörre.

Populisten wie Al-Sadr, ein Mann, der sowohl die USA als auch den Iran vehement ablehnt, haben aus dieser Situation heraus an Zulauf gewonnen. »Wir sind keine Sadristen« und »Das ist kein schiitischer Protest« riefen die Demonstranten, als sie vor einigen Tagen den Regierungspalast stürmten.

Zwar scheint der überwiegende Teil derjenigen, die die »Grüne Zone« gestürmt haben, aus Gefolgsleuten Al-Sadrs zu bestehen, doch auch kurdische und sunnitische Iraker erklären nun in sozialen Netzwerken, seine Forderungen nach Neuwahlen, nach einer Reform des politischen Systems, nach einem verstärkten Kampf gegen die Korruption zu unterstützen.

Und korrupt, das sind im Irak nicht nur der Politiker oder der Beamte, die sich schmieren lassen; Korruption ist allgegenwärtig: Man muss zahlen, um sich überhaupt auf einen Job bewerben zu können; man muss zahlen, um an Papiere zu kommen. Und das von den Vereinigten Staaten verordnete komplexe System der Regierungsbildung, das offiziell darauf angelegt ist, möglichst allen drei großen Bevölkerungsgruppen Einfluss zu sichern, führte in der Praxis dazu, dass Parteien für ihre Unterstützung Zahlungszusagen oder Jobversprechen für ihre Wählerschaft erhielten. Das Ergebnis: ein aufgeblähter Verwaltungsapparat und Infrastrukturprojekte genau dort, wo sie gar nicht gebraucht werden.

Saairoun hält derzeit 73 der 329 Parlamentssitze. Doch obwohl er keine Mehrheit hat, will Al-Sadr den kurdischen Politiker Rebar Ahmed als Präsidenten und seinen Cousin Jaafar Al-Sadr, derzeit Botschafter in London, als Regierungschef durchsetzen. Drei Mal scheiterte deshalb die Wahl des Präsidenten im Parlament, weil weniger als zwei Drittel der Abgeordneten anwesend waren.

Auch die pro-iranischen Fraktionen waren den Sitzungen ferngeblieben – sie wollen Jaafar Al-Sadr keinesfalls auf dem Posten des Ministerpräsidenten sehen und befürchten, dass es genau darauf hinausliefe, wenn Ahmed Präsident wird. Denn dessen einzige wirkliche Funktion ist, einen Kandidaten für die Regierungsbildung zu ernennen. Dabei hat man mit dem amtierenden Regierungschef Mustafa Al-Kadhimi einen parteilosen Kandidaten, dem Saairoun noch im Mai 2020 zugestimmt hatte und der auch versucht, Reformen anzugehen. Allerdings sind ihm seit der Wahl dabei die Hände gebunden. Selbst auf einen Großteil der Staatsfinanzen kann seine Regierung nicht zugreifen, weil das Parlament keinen Staatshaushalt verabschiedet hat.

Unklar ist indes die Rolle der schiitischen Milizen, die nun gegen die Al-Sadr-Leute in den Kampf ziehen. Viele dieser Gruppen waren vor fünf Jahren zusammen mit Milizen Al-Sadrs, den Peschmerga und dem Militär am Kampf gegen den »Islamischen Staat« beteiligt. Die irakische Generalstaatsanwaltschaft macht sie aber auch für die vor allem in Bagdad grassierende Kriminalität verantwortlich und fordert ihre Entwaffnung – mit Unterstützung von Ministerpräsident Al-Kadhimi, der vor seiner Wahl Geheimdienstchef war.

Nun jedoch haben sie sich auf die Seite des Bündnisses der pro-iranischen Fraktionen gestellt, deren prominentester Vertreter Nuri Al-Maliki ist und der von 2006 bis 2014 Regierungschef war. Denkbar ist, dass sie darauf bauen, dass sich dieses Bündnis am Ende durchsetzen wird und sie dann auf eine freundlichere Regierung setzen können.

Mittlerweile haben sich so gut wie alle Fraktionen für Neuwahlen ausgesprochen. Doch ob sich danach viel ändern wird, ist unsicher: Nur knapp 44 Prozent der Wähler gaben 2021 ihre Stimme ab, und die politische Desillusionierung hat seitdem weiter zugenommen. Die politische Zukunft des Iraks bleibt somit weiter ungewiss, sollte es keine grundlegenden Veränderungen geben.

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