Selbstbestimmung im Bienenstock

Weiblicher Pragmatismus: Der kosovarische Kinofilm »Hive« erzählt von der Emanzipation einer Frau

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Akt des Aufbegehrens: Eine Frau macht den Führerschein in "Hive".
Ein Akt des Aufbegehrens: Eine Frau macht den Führerschein in "Hive".

Fahrije parkt ihr Auto vor dem Café und will gerade aussteigen, als ein Stein durch die Scheibe auf den Rücksitz fliegt. »Scheiß Nutten«, ruft einer der alten Männer, die vor dem Café sitzen. Dass Fahrije den Führerschein gemacht hat, allein in die Stadt fährt und arbeitet, passt nicht zu dem Leben, das in dieser ländlichen Gegend des Kosovo für eine Frau vorgesehen ist. Sie soll zu Hause sitzen und sich um den Haushalt kümmern, während der Mann die Familie versorgt. Einen Mann hat Fahrije allerdings seit dem Krieg nicht mehr, genauso wie viele andere Frauen im Dorf.

Die Regisseurin Blerta Basholli zeigt in ihrem Spielfilmdebüt »Hive« eine patriarchale Gesellschaft, der die Männer abhandengekommen sind. Während des Kriegs verschwanden im Kosovo über 13 000 Menschen. Im Dorf Krusha e Madhe, wo der Film spielt, kam es 1998 zu einem der schlimmsten Massaker: 240 Menschen, vor allem junge Männer, wurden getötet, einige von ihnen gelten bis heute als vermisst. »Hive« erzählt die wahre Geschichte einer Witwe, die nach dem Verschwinden ihres Mannes aus der üblichen passiven Frauenrolle ausbricht, selbstbestimmt ihre Familie versorgt und dabei trotz großer Widerstände im Dorf ein erfolgreiches lokales Unternehmen gründet.

Fahrije (Yllka Gashi) ist eine starke, pragmatische Frau, die weiß, dass sie keine Zeit hat, um zu trauern oder sich über abfällige Bemerkungen aufzuregen. Sie muss ihre zwei Kinder und den alten Schwiegervater betreuen und sich um die Bienenstöcke von Agim, ihrem vermissten Mann, kümmern. Der Verkauf des Honigs bringt kaum Einnahmen, und Fahrije sucht nach anderen Wegen, um Geld zu verdienen. Die übrigen Witwen im Dorf wollen von Fahrijes Bemühungen, unabhängig zu werden, allerdings nichts wissen. Als eine Organisation den Frauen anbietet, kostenlos den Führerschein zu machen, ist Fahrije die einzige, die das Angebot annimmt. Die meisten haben zu große Angst vor ihren Vätern und Schwiegervätern. Den alten Männern gefällt es nicht, dass die Frauen an der patriarchalen Struktur rütteln, indem sie sich bemühen, ihre Familie zu versorgen. Dass die Männer selbst dazu aber auch nicht mehr in der Lage sind, weil die meisten von ihnen zu alt und gebrechlich sind, wollen sie sich nicht eingestehen.

Auch Fahrijes Schwiegervater Haxhi (Çun Lajçi) ist nicht begeistert von ihrem Wunsch. »Du solltest deinen Platz in der Familie kennen«, sagt er und scheint ihr gar nicht zuzuhören, wenn sie betont, dass es ihr um die Zukunft der Kinder geht. Als sie den Sägetisch ihres vermissten Mannes verkaufen will, weil die Familie Geld braucht, wird Haxhi wütend und verbietet es ihr. »Auch wenn mein Sohn für dich tot ist, ich bin es nicht«, sagt er. Während Fahrije vor allem daran denkt, dass es weitergehen muss, haben Haxhi und die Kinder Angst vor Veränderungen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass Agim nicht mehr zurückkommt.

Auch Fahrije ringt mit ihrer Trauer und ihrer neuen Rolle in der Familie. Die Regisseurin hat die Zerrissenheit ihrer Protagonistin in einer eindrucksvollen Szene eingefangen. Sieben Jahre nach den Massakern und Deportationen findet eine Demonstration vor dem Regierungsgebäude in Pristina statt. Viele Angehörige sind gekommen und bekunden ihren Unmut, dass zu wenig getan wird, um die Vermissten zu finden. Auch Fahrije ist unter den Teilnehmer*innen. Eine Rednerin spricht ins Megafon: »Wir können nicht frei sein, solange das Schicksal der Vermissten ungeklärt ist.« In diesem Moment steigt Fahrije in ihr Auto ein, wie um zeigen, dass sie nicht abwarten will, bis sie frei sein kann. Doch sie fährt nicht sofort los, verharrt einen Moment in Gedanken. Bei aller Entschlossenheit und allem Pragmatismus: Unverwüstlich ist Fahrije nicht. Gashi stellt Fahrije als unglaublich starke Frau dar, die sich mit eiserner Miene allen Widrigkeiten stellt, aber sie lässt auch Raum für die Zwischentöne, Momente des Zweifels, der Trauer und Wut.

Man könnte es verstehen, wenn Fahrije irgendwann keine Kraft mehr hätte weiterzumachen. Für ihre Idee, Ajvar herzustellen und zu verkaufen, findet sie anfangs keine Unterstützung. Im Dorf wird über sie geredet. Fahrije legt trotzdem los, schält Paprika, rührt Ajvar, füllt ihn in die Gläser, in die sonst der Honig kommt, und verkauft ihn an den lokalen Supermarkt. Als die anderen Witwen sehen, dass Fahrijes Idee funktioniert, überwinden einige von ihnen ihre Angst vor dem Dorftratsch und den Schwiegervätern und schließen sich an. Bald kann immer mehr Ajvar produziert werden, und die Gläser bekommen richtige Etiketten.

Das Geschäft läuft, aber viele Dorfbewohner können noch immer nicht akzeptieren, dass Frauen arbeiten und Geld verdienen. Eines Morgens finden Fahrije und ihre Mitstreiterinnen ihr Vorratslager verwüstet vor. Doch statt sich zu ärgern, wird sofort das Aufräumen organisiert, der Boden gewischt und die unbeschädigten Gläser zur Seite gestellt. Fahrije verzieht keine Miene, aber sie hat keine Lust mehr, sich alles gefallen zu lassen. Kurzentschlossen packt sie einen großen Stein ins Auto, fährt zum Café und wirft ihn durch die Scheibe des Männertreffpunkts.

»Hive« ist ein berührender und inspirierender Film, der zu Recht auf mehreren Filmfestivals prämiert wurde. Er zeigt, wie feministische Selbstbestimmung auch in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft gelingen kann und ist das würdige Porträt einer beeindruckenden Frau. Fahrijes Unternehmen Krusha hat mittlerweile über 50 Mitarbeiter*innen und exportiert Ajvar und eingelegtes Gemüse in viele europäische Länder. Auch in Deutschland kann man ihre Produkte kaufen. Sie hat sich ihren eigenen Bienenstock geschaffen, eine Gemeinschaft von starken Frauen, die zusammengehalten wird durch gemeinsame Arbeit und Solidarität.

»Hive«: Kosovo 2021. Regie/Buch: Blerta Basholli. Mit: Yllka Gashi, Çun Lajçi, Aurita Agushi. 84 Min. Start: 8.9.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.