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Vom Verlust der Vielfalt

Lutz C. Kleveman über den Brand von Smyrna 1922 und dessen Folgen für Europa

  • Pia Sophie Roy
  • Lesedauer: 5 Min.
Lutz C. Kleveman schreibt über die blutige Geburtsstunde der modernen Türkei.
Lutz C. Kleveman schreibt über die blutige Geburtsstunde der modernen Türkei.

Historisch tradierte Konflikte, die politisch zweckbestimmt immer wieder geschürt werden, sind nicht nur ein Phänomen in ehemaligen sozialistischen Sowjetrepubliken der vor drei Jahrzehnten auseinandergebrochenen oder besser: gesprengten UdSSR. Sie gibt es auch innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft. Man denke allein an Griechenland und die Türkei, zwei Nato-Länder, die immer mal wieder gern ihre Muskeln spielen lassen, mit Drohgebärden Verbündete entsetzen, auch schon militärisch gegeneinander zu Felde oder zu See gezogen sind, etwa im Streit um Zypern – ein Streit, bis heute nicht beigelegt.

Weniger bekannt dürfte sein, dass auch Izmir, das historische Smyrna, nach wie vor die Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei trübt. Auch oder gerade unter Recep Tayyip Erdoğan wird alljährlich »die Rückeroberung« der Stadt an der Ägäisküste am 9. September 1922 gefeiert, wie der Journalist Lutz C. Kleveman in seinem neuen Buch berichtet. Er hat sich das propagandistische Spektakel selbst angeschaut: Eröffnet wird der Feiertag mit einem Festakt auf dem mit Fahnen umsäumten Platz der Republik in Izmir. Auf der Tribüne nehmen Würdenträger aus Politik und Militär Huldigungen des Volkes entgegen, Soldaten legen Blumenkränze am Denkmal von Mustafa Kemal ab, dem Begründer der modernen Türkei, der als Befreier von Smyrna aus griechischer Besetzung gilt. Am 26. August 1922 hatte er als Parole für die Gegenoffensive in dem sich dem ersten Weltenbrand anschließenden griechisch-türkischen Krieg ausgegeben: »Soldaten, euer Ziel ist das Mittelmeer!« Zum Feiertag am 9. September in Izmir gehört alljährlich auch eine Flugshow von Kampfjets im Tiefflug, eine Machtdemonstration, gerichtet vor allem an den griechischen Nachbarn. Die Feierlichkeiten enden mit einem Fackelzug am Abend.

Vermutlich, wenn nicht gar bombastischer, wird so auch der morgige Freitag in Izmir verlaufen. Denn dann ist das tragische Geschehen exakt 100 Jahre her, das türkischerseits an diesen Jahrestagen jedoch mit keinem Wort erwähnt wird: der verheerende Brand von Smyrna, der Zehntausende Menschen das Leben kostete und eine einzigartige kosmopolitische Metropole vernichtete. Das Verschweigen – Eingeständnis einer Schuld?

Tatsächlich ist es bis heute umstritten, wer die erste Fackel geworfen hat oder wie das Feuer ausgebrochen ist. Hingegen nicht, wer für die vielen Toten verantwortlich zeichnet. Bevor sich Kleveman diesen Fragen zuwendet, nimmt er die Leser*innen mit auf seine Reise nach Griechenland und Kleinasien. Über ein Jahr recherchierte er, führte Interviews, studierte alte Bücher und Dokumente, um Gewissheit zu erlangen, was an jenem 9. September 1922 und in den Tagen danach geschehen ist. Zunächst der historische Hintergrund:

Das Osmansiche Reich gehörte an der Seite von Deutschland zu den Verlierern des Ersten Weltkrieges und musste Territorien abtreten. Griechenland, das 500 Jahre unter dem Osmanischem Joch gestöhnt hatte, sah eine Chance zur Revanche, die kleinasiatische Küste und andere zu Europa gehörende Gebiete, in denen zahlreiche Griechen lebten, zurückzugewinnen. Doch der 1921 entbrannte griechisch-türkische Krieg brachte den Hellenen trotz anfänglicher Erfolge kein Glück. Am 30. August 1922 brach ihr Widerstand zusammen. Eine Woche später war das vo ihnen besetzte Smyrna verloren.

Kleveman erinnert an die Glanzzeiten der antiken Hafenstadt und vermerkt, dass sie während der osmanischen Zeit einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, Menschen aus dem gesamten Mittelmeerraum anlockte, darunter aus Spanien vertriebene Juden. Sie alle lebten hier friedlich miteinander, auch mit den Muslimen gab es keine Zwistigkeiten. Eine kosmopolitische Welt. Dies änderte sich mit der Revolution der Jungtürken 1908, »die erste große politische Umwälzung des 20. Jahrhunderts, lange vor den großen Revolutionen in St. Petersburg, Berlin und Wien zum Ende des Ersten Weltkrieges«, schreibt Kleveman. »Während jene Umstürze den Untergang der europäischen Kaiserreiche besiegeln sollten, zielte der Aufstand der Jungtürken nicht darauf ab, die Herrschaft der Sultane komplett zu beenden, sondern ihre Macht lediglich zu beschneiden.« Sie wollten Bürgerrechte in der Verfassung fixieren, leiteten liberale Reformen ein, schafften die Sklaverei, den kaiserlichen Harem und die Zensur ab, begannen eine Alphabetisierungskampagne und führten die Schulpflicht ein. »Damit begannen allerdings auch schon die Probleme«, konstatiert der Autor. Der Unterricht erfolgte zunächst in der Muttersprache der Schüler, aber an der Mittelschule war Türkisch Pfichtfach, was die Griechen eine kulturelle Kampfansage vertanden. Auch die Gleichberechtigung, dass jetzt Griechen und Juden ebenfalls Militärdienst leisten mussten, trug zu Unfrieden bei und trieb viele in die Emigration. Kurzum, es war hier ein auch andernorts und zu anderer Zeit erfahrenes Paradoxon zu beobachten: Emanzipation und Liberalität belebten den Nationalismus der Ethnien.

Kleveman weiß zu berichten: »Unter der griechischen Besetzung erlebte die Stadt ein zweites, wenngleich sehr kurzes goldenes Zeitalter. Der Handel und das Kulturleben blühten wieder auf. Es gab fast 500 Cafés. In denen mehr als dreißig Zeitungen aller Sprachen zu lesen waren. In den Kinos liefen die neuesten Stummfilme aus Europa und den USA, im städtischen Theater wurde Verdis Rigoletto und im Sporting Club die Aida aufgeführt. Es war ein letzter Tanz auf dem Vulkan, der Sonnenuntergang für das süßliche Smyrna.« Die griechische Besatzungsmacht habe sich um politischen Frieden in der Stadt bemüht, so Kleveman. »Der griechische Gouverneur beließ alle osmanischen Funktionäre auf ihren Posten, integrierte Armenier und Juden in die Verwaltung und setzte sogar einen türkischen Bürgermeister ein. Auch vor den Gerichten wurden Griechen nicht bevorzugt.«

Damit war ab dem 9. September Schluss. Nach dem zerstörerischen Brand brach noch einmal Gewalt aus mit Kemals Ankunft in der Stadt. Muslimischer Mob zog den griechisch-orthodoxen Metropoliten an seinem Bart durch die Straßen, stach ihm die Augen aus und lynchte ihn – unter den Augen einer französischen Patrouille, die den Befehl hatte, nicht einzugreifen. (Man ist an die UN-Blauhelme in Ruanda 1994 erinnert.) »Die Hinrichtung des Griechen war der Auftakt zu einer Gewaltorgie.« Türkische Soldaten und Zivilisten zogen durch die Straßen und veranstalteten regelrechte Menschenjagden. Besonders armenische Männer wurden ausgeraubt und umgebracht, Frauen verschleppt und vergewaltigt. Vermeintliche Kollaborateure der Griechen wurden standrechtlich erschossen.

Resümee des Autors: »Auf der Asche von Smyrna schuf Mustafa Kemal die moderne Türkei… Am 29. Oktober 1923 rief er in Ankara die Republik aus und ließ sich von der Großen Nationalversammlung zum ersten Präsidenten wählen.«

Lutz C. Kleveman: Smyrna in Flammen. Der Untergang der osmanischen Metropole 1922 und seine Folgen für Europa. Aufbau, 381 S., geb., 24 €.

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