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Wieso, weshalb, warum – und von wem
Stefan Bollinger skizziert am Jahr 1939, wie Kriege inszeniert werden
Der andauernde Ukraine-Krieg, den die russische Führung unter Präsident Wladimir Putin völkerrechtswidrig, Tote und Zerstörung in Kauf nehmend, entfacht hat, zwingt zum Nachdenken, zur Diskussion und zur Meinungsbildung, die kontrovers erfolgt und auch zu kontroversen Haltungen und Handlungen führt.
Stefan Bollinger, Jahrgang 1954, linker Historiker und Publizist, der sich immer wieder mit aktueller Sicht und Schreibweise Gedanken über den Umgang mit Krieg, seinen Ursachen, Profiteuren und das Leid der Menschen macht, hat jetzt eine neue Publikation vorgelegt, die sich dem Jahr 1939 widmet, um zu eruieren, wie der Krieg gemacht wurde (werden). Kurz zuvor hatte er sich bereits zu ähnlicher Problematik geäußert: »Die Russen kommen! Wie umgehen mit dem Ukrainekrieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen« (siehe »nd« vom 1. September).
»Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges ist umfassend erforscht und dokumentiert. Die heutige Diskussion – bei aller Bedeutung jetzt offengelegter sowjetischer Dokumente oder auch bei dem Auffinden weiterer deutscher oder westlicher Papiere – ändert aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Grundlegendes«, schreibt Bollinger zu Recht. Nichts Grundlegendes hat sich in den letzten Jahrzehnten im Grundgehalt der Wertungen, wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, Polemiken und persönlichen Anfeindungen verändert. Akzente haben sich allerdings verschoben, neue Protagonisten haben das Kampffeld betreten, Details werden tiefer ausgelotet.
Bollinger verdeutlicht dies nicht nur an der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, sondern generell von millitärischen Konflikten bis hin zum Ukraine-Krieg. Und dies unter Heranziehung vieler neuer, in den letzten Jahren erschienener Publikationen, wobei die Literatur aus Russland zu kurz kommt. Der Autor will sich in die publizistische Debatte einmischen, will Geschichte und ihre Deutung in Erinnerung bringen, seine Erkenntnisse und Argumente anbieten, zum Nach- und Mitdenken anregen. Sein Buch soll ein »Wegweiser durch wissenschaftlich und politisch relevante Schriften sein«, wobei der Autor zugleich nicht verhehlt, dass er sich auch von seinem Erkenntnisinteresse leiten lässt und politisch Stellung bezieht.
Der Titel des Buches offenbart die Intention des Historikers und Publizisten: Zum einen will er zeigen, wie das imperialistische, in seiner letzten Ausprägung faschistische Deutschland langfristig und revisionistisch den Krieg politisch, ideologisch und militärisch vorbereitete und 1939 entfachte, zum anderen wie dieses Deutschland »die Welt in den Abgrund stürzen durfte«. Nach einem Blick auf das »Schlachtfeld Geschichte«, wie es sich im »Streit um Werte und Bewertungen« in der geschichtswissenschaftlichen Literatur mit einem beachtlichen Anteil von DDR-Autoren zum Jahr 1939 offenbart, wendet sich Bollinger dem Zweiten Weltkrieg als ein »deutsches Elitenprojekt« zu. Er verdeutlicht an einigen Beispielen von Repräsentanten und deren aufschlussreichen Aussagen, wie sich die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Eliten nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg »startbereit für eine neue Runde Großmacht« machten, wie Militär und Kapital sich seit 1918 im Antikommunismus, Revanche- und Weltherrschaftsdenken weitgehend einig waren und schließlich in Adolf Hitler den Führer zur Verwirklichung ihrer Ziele fanden.
Aber auch »Wege wie Irrwege der Kriegsverhinderung« unterzieht Bollinger intensiver abwägender Betrachtung. Er versteht die versteckte und immer offenere Kriegsvorbereitung des imperialistisch-faschistischen Deutschlands als »Krieg mit Ansage« und »beständigen Zug in den Krieg«, den die weit mächtigeren Gegner mit ihrer naiven Appeasement-Politik (Westmächte) und des taktierenden Heraushaltens aus dem Krieg (Sowjetunion) nicht verhindern konnten. Eine Anti-Hitler-Koalition kam nicht zustande. Polen, das sich zunächst (ausweglos) allein wehren musste und nicht kapitulierte, wurde zum ersten Opfer deutscher mörderischer Ostexpansion.
Die Welt in den Abgrund zu stürzen ermöglichten Deutschland die herrschenden Eliten der Westmächte. Sie duldeten und stützten, wenn auch nicht ohne Widerspruch, den faschistischen Kriegskurs. Dies verdankte sich unter anderem deren eingetrübten Blick auf die »kommunistische« Sowjetunion. Diese stemmte sich zwar dem fatalen Kurs der Billigung aggressiver Forderungen aus Berlin, fand sich aber schließlich, am August 1939, auch bereit zu einem Vertrag mit Deutschland, dem Nichtangriffsvertrag mit einem geheimen Zusatzabkommen, was Polen zum Verhängnis wurde. Der Vertrag – den politisch motivierten Begriff »Hitler-Stalin-Pakt« sollten solide Historiker meiden – wird im neuen Kalten Krieg wieder verstärkt genutzt, um Moskau in die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zu nehmen und die scharfmacherische Haltung der heutigen Regierungen in Polen und den drei baltischen Staaten im Ukraine-Konflikt sowie Finnlands bevorstehenden Beitritt zur Nato mit den bitteren historischen Erfahrungen dieser Staaten zu begründen.
Wie, weshalb, warum und von wem Kriege mit welchen Begründungen gemacht und bewertet wurden und werden, hat Stefan Bollinger beeindruckend verdeutlicht. Der Rezensent kann seinen Darlegungen weitgehend zustimmend mit Nachdenklichkeit folgen und diese Antikriegslektüre weiterempfehlen.
Stefan Bollinger: 1939 – Wie der Krieg gemacht wurde … und Deutschland die Welt in den Abgrund stürzen durfte. PapyRossa, 247 S., br., 16,90 €.
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