- Politik
- Ukraine
Getreideschiffe auf unklarem Kurs
Bei der von der Uno und der Türkei vermittelten Lieferung von Agrargütern aus der Ukraine fehlt die Transparenz
Der Welt stehe eine globale Nahrungsmittelkrise bevor, warnte Wolodymyr Selenskyj beim Weltwirtschaftsforum Ende Mai in Davos. Russland trage eine erhebliche Schuld daran, wenn in Afrika Tausende Kinder verhungerten, denn es blockiere die ukrainischen Häfen. Dort aber lagerten 22 Millionen Tonnen Getreide, Sonnenblumen und andere Lebensmittel, die in den ärmsten Ländern der Welt dringend erwartet würden, betonte der ukrainische Präsident bei vielen Gelegenheiten. Am 22. Juli wurden in Istanbul – vermittelt von der Türkei und der Uno – mit Russland und der Ukraine Abkommen unterzeichnet, die den Export von ukrainischem wie russischem Getreide durch das Schwarze Meer ermöglichen. Seither sind nach Angaben aus Kiew über die ukrainischen Häfen Odessa, Tschornomorsk und Piwdennyj rund 1,73 Millionen Tonnen Agrargüter exportiert worden.
Man wählt den Begriff »Agrargüter« ganz bewusst. Neben Weizen, Sonnenblumenöl, Gerste, Zuckerrüben, Raps und Soja wird auch viel Mais exportiert. Die Ukraine nimmt Position sechs unter den größten Maisproduzenten der Welt ein. Doch das Massenprodukt taugt weniger für die Nahrungsmittelherstellung, es wird als Tierfutter und Ausgangsprodukt zur Erzeugung von Biokraftstoff verwendet. Diese Getreidelieferungen sind daher bei weitem nicht nur eine humanitäre Hilfe gegen den Hunger in der Welt. Sie sichern dem Land, das eine russische Aggression abwehrt, wichtige Dollareinnahmen.
Überdies sind die Lieferungen für Zwischenhändler ein Spekulationsobjekt: Zu Wochenbeginn kostete eine Tonne Mais auf dem europäischen Terminmarkt 321,75 Euro, und die Ukraine ist derzeit der billigste Anbieter. Russlands Ausfuhren dagegen stagnierten. Das liege weniger an Sanktionsbeschränkungen, Moskaus Preisvorstellungen seien einfach zu hoch, sagen Börsenkenner. Das aber ändere sich gerade, weil die neue Ernte ins Angebot drängt. Da kommt es Profiteuren gerade recht, dass es gerade nicht gut steht um die Maisernte in den meisten europäischen Staaten. Für Konkurrenzdruck sorgen derzeit aber auch beste Ernteprognosen bei Weizen und Gerste in Australien. Auch Russlands Weizenernte übertrifft alle Erwartungen.
Gerade deshalb: Jeder Frachter, der einen ukrainischen Hafen verlässt, wird in Kiew als Sieg über Moskau bejubelt. Allein am vergangenen Sonntag hätten 13 das offene Schwarze Meer erreicht, die größte Anzahl an einem Tag seit dem Inkrafttreten des Juli-Abkommens. An Bord seien 282 500 Tonnen Agrarprodukte, die in acht Staaten geliefert werden, berichten ukrainische Medien. Insgesamt, so ergänzte das Infrastrukturministerium in Kiew, seien bislang 68 Schiffe beladen worden. Ihre Fracht sei für 19 Länder der Welt bestimmt. Auch die Bahn habe beim Export geholfen und rund eine Million Tonnen transportiert. Per Lkw seien rund 600 000 Tonnen zu Abnehmern gelangt. Infrastrukturminister Olexandr Kubrakow erwartet, dass die ukrainischen Agrarausfuhren im September die Rekordmenge von acht Millionen Tonnen erreichen werden.
Trotz der im Juli in Istanbul getroffenen Vereinbarungen, die – so die Ukraine und Russland das wollen – bis Mitte November verlängert werden könnten, bewegen sich die Schiffe weiterhin sehr langsam. Das liegt nicht nur daran, dass sie wegen der Minengefahr Zwangswege einhalten müssen. Insgesamt haben sich die Frachtkosten im Vergleich zu den Vorkriegszeiten fast verdoppelt, behaupten beteiligte Reeder. Uno-Generalsekretär Antonio Guterres dagegen denkt vor allem an die gewaltige Nahrungsmittelknappheit und betont immer wieder, wie eilig die Lieferungen aus der Ukraine seien und wie dringend sie gerade am Horn von Afrika und im Nahen Osten erwartet würden. Doch kommt die Fracht dort an?
Es fällt auf, dass die Regierung in Kiew nichts über die Bestimmungs- oder Entladeorte der Fracht bekannt gibt. Nachforschungen ergaben, dass bereits im August über 20 Schiffe europäische Häfen angelaufen haben. Darüber hinaus sind mehr als 20 Schiffe nach Rumänien, Spanien, in die Niederlande, nach Irland, Deutschland, Frankreich und Griechenland gefahren. In italienischen Häfen wurde ein halbes Dutzend dieser Schiffe entladen. Asiatische Länder wie Südkorea, China und Indien wurden angesteuert. In afrikanischen und nahöstlichen Ländern lässt sich für den Monat August die Ankunft von bislang zehn Getreideschiffen belegen.
Transparenz beim Getreidetransport scheint unerwünscht. Der erste Frachter, der im August einen ukrainischen Hafen verlassen konnte, war die »Razoni«. Politiker in aller Welt feierten die Abfahrt als Hoffnungsignal im Kampf gegen den Hunger. Das unter der Flagge von Sierra Leone fahrende Schiff hatte angeblich 26 000 Tonnen Mais an Bord. Doch im Zielland Libanon ist das Schiff nie angekommen, stattdessen irrte es durchs Mittelmeer. Makler suchten nach einem Käufer für die Fracht, die plötzlich als Hühnerfutter deklariert wurde. Letztlich steuerte die »Razoni« einen Hafen in Syrien an.
Anfang August verließ der unter maltesischer Flagge fahrende Frachter »Rojen« den ukrainischen Hafen von Tschernomorsk. Kurs: Großbritannien. Aus demselben Hafen stach die »Sormovskiy 121« in See. Sie transportierte gut 3000 Tonnen Weizen – in die Türkei. Parallel dazu legte die »Star Laura« aus dem Hafen Piwdennyj ab. Sie hatte 60 000 Tonnen Mais an Bord – und nahm Kurs auf den Iran. Vor ein paar Tagen lief der Maisfrachter »Lady Zehma« aus – Richtung Italien. Doch die Ankunft wird sich verzögern, denn nach einem Ruderschaden liegt die »Lady« derzeit nach einer Grundberührung vor Istanbul fest.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.