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Angriff auf Exarchia
In Athen soll das berühmte Stadtviertel der Linken zu einem Spielplatz für die griechische Mittelschicht und für Touristen mit dem nötigen Kleingeld werden, überwacht von Sicherheitskameras
Der Kampf der rechten Regierung in Griechenland gegen das Athener Stadtviertel Exarchia hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Unter starkem Polizeischutz sind Anfang August morgens um 4.30 Uhr die Bulldozer in das Viertel eingerückt, das vielen als das Herz der griechischen alternativen Linken gilt. Auf dem zentralen Platz, dem Platia Exarchion, sollen sie mit den Bauarbeiten für die neue Athener U-Bahn-Linie 4 beginnen, deren Eröffnung für frühestens 2029 geplant ist. Nur wenige Menschen kamen am Morgen des 9. August zusammen, um gegen den Baubeginn zu protestieren. Die meisten Bewohner*innen des studentisch geprägten Viertels befanden sich in den Sommermonaten nicht in der Stadt. Außerdem wurde das Bauunternehmen vom griechischen Verkehrsministerium erst einen Tag zuvor über den Beginn der Arbeiten informiert, um im Falle möglicher Leaks die Vorbereitungszeit für Proteste gering zu halten. Dennoch musste die Polizei Tränengas einsetzen, denn mehrere Demonstrant*innen versuchten, die Polizeiketten zu durchbrechen, die den zentralen Platz abriegelten.
Der Protest in diesem Viertel wird keineswegs nur von jungen Student*innen getragen. Exarchia hat eine lange Tradition als linker, autonomer, anarchischer Stadtteil. Hier kämpften 1944 die Kommunisten gegen die Rechten, hier begannen im November 1973 die Proteste an der polytechnischen Universität, mit denen der Anfang vom Ende der Militärjunta eingeläutet wurde. Damals rückten Panzer auf den Campus ein, es starben 44 Menschen.
Der Platia Exarchion ist so etwas wie ein Wallfahrtsort für junge Linke aus Westeuropa. Dass nun dieses lebendige Zentrum einer Metro-Station weichen soll, ist mehr als nur ein symbolträchtiger Angriff: Es ist die nächste Eskalationsstufe des griechischen Staats beim Versuch, seine autoritären Ordnungsvorstellungen durchzusetzen und das zentrale Athener Stadtgebiet weiter aufzuwerten. Die konservative Partei Nea Dimokratia (ND), seit Juli 2019 Regierungspartei, hatte schon im Wahlkampf mit martialischen Worten zum Angriff auf das Viertel geblasen.
Athanasios Plevris, amtierender Gesundheitsminister mit klerikal-faschistischem Hintergrund, stellte sich 2019 – aus Angst vor Attacken der Linken im Morgengrauen – öffentlichkeitswirksam auf den Platz und ließ sich dabei filmen, wie er von dessen Eroberung sprach: »Am 9. Juli werden wir den Platz den Menschen zurückgeben. Wir werden die Gesetzlosigkeit beenden, wir werden die Abschottung beenden. Mit der Nea Dimokratia wird der Platz wieder ein normaler Platz werden.« Kurz nach der Wahl zum Ministerpräsidenten stellte der Premierminister Kyriakos Mitsotakis seine Pläne vor, wie er dieses »Nest der Antiautoritären« bekämpfen wollte: die besetzten Gebäude räumen, um die staatliche Kontrolle zurückzuerlangen. Dies war nicht nur Rhetorik, da die Polizei sich gerade der Gegend um den zentralen Platz tatsächlich lange Zeit nur in Mannschaftsstärke nähern konnte.
Die neue Metro-Linie 4 ist ein lange geplantes Infrastrukturprojekt. Finanziert wird es vor allem durch einen Kredit von der Europäischen Investitionsbank. Nach jahrelanger Vorplanung begann 2017 die Ausschreibung des Bauvorhabens unter der Linksregierung von Syriza. Alle Proteste und alternative Vorschläge zum Erhalt des Platzes halfen nichts. Es gab beispielsweise den Vorschlag, die Metro-Station unweit des Archäologischen Nationalmuseums zu bauen, einem der wichtigsten Touristenmagneten in der griechischen Hauptstadt neben der Akropolis. Das wurde sowohl von der alten linken als auch von der neuen rechten Regierung verworfen, unter Verweis auf die komplizierte Streckenführung. Während Syriza das Image des Viertels als links-alternatives Stadtquartier mit viel Graffiti für die touristische Vermarktung ausschöpfen wollte, setzt die aktuelle Regierung auf die offene Konfrontation, die bei ihren konservativen Anhängern gut ankommt.
Das Viertel befindet sich schon seit Längerem in einem Wandlungsprozess, der von wirtschaftlichen wie politischen Faktoren vorangetrieben wird. Es war nie ein klassisches Arbeiterviertel, von manchen wird es auch als das »Montmartre von Athen« bezeichnet. Die Vermarktung als Hotspot für Künstler und Kreative läuft längst reibungslos. Vegane Gyros-Läden haben sich hier angesiedelt und teure, lieblose Bars mit Namen wie »Revolt street bar« oder »Underground Café«. Gleichwohl sind der Platia Exarchion und das Viertel teilweise in einem baufälligen, heruntergekommenen, ja für die Bewohner gefährlichen Zustand. Es bedarf dringender Sanierungen.
Der große Hügel »Lofos Strefis«, neben dem Platia Exarchion der zentrale Treffpunkt in Exarchia, mit einen wunderbaren Blick auf die Akropolis, ist verdreckt. Zeitweise war aus ihm ein Drogenumschlagplatz geworden, nun ist er aufgrund der Brandgefahr ein Sicherheitsrisiko. Was – vor allem deutsche – Alternativtourist*innen gerne romantisieren, ist für viele Anwohner*innen mehr als ein Ärgernis. Sie haben aber immer wieder bewiesen, dass sie in Eigeninitiative Probleme angehen können. Dealer und kriminelle Banden, die sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise vermehrten, wurden aus dem Viertel getrieben, und ab 2015 wurde eine solidarische Infrastruktur für ankommende Flüchtlinge geschaffen.
Doch der Staat setzt auf private Investoren. Die Umgestaltung des Hügels wurde der Immobilien-Investmentgesellschaft Prodea übertragen. Die Firma übernimmt die Kosten der Planung und Umgestaltung, während die Athener Stadtregierung, so das Versprechen, die Kontrolle über das Areal behalten soll. Kritiker werfen Prodea vor, eigene Interessen an der Aufwertung zu haben. So habe das Unternehmen Bewohner aus dem Viertel vertrieben, die Wohnungen in Airbnb-Ferienapartments umgewandelt und sie damit dem Mietmarkt entzogen, dessen Preise damit anstiegen. Die geplante Umgestaltung des Hügels wirkt lieblos. Es gibt Simulationen der Bebauung, in denen sieht das Areal aus wie ein Spielplatz für die griechische Mittelschicht und für Touristen mit dem nötigen Kleingeld: modern und stetig überwacht von Sicherheitskameras. Die Vorstellungskraft der Immobilienverwalter*innen reicht hier anscheinend nicht einmal mehr für die Instrumentalisierung und Kommerzialisierung linksalternativer Projekte.
Derzeit gleicht die Situation im Viertel einem Belagerungszustand. Zahlreiche Polizeitrupps patrouillieren Tag und Nacht durch die Straßen, der Platz und die Baustelle sind mit einem blickdichten Zaun abgeschirmt, mit hellem Licht ausgestrahlt und bewacht. Die Proteste dagegen sind bislang recht schwach. Doch das kann sich im Oktober ändern, wenn für die Studierenden das Wintersemester beginnt.
Allgemein treibt die Rechtsregierung den autoritären Umbau der gesellschaftlichen Ordnung voran. Exarchia ist dabei nur ein Baustein. Athanasios Plevris ist nicht der einzige Minister mit rechtsradikalem Hintergrund. Ebenso wie der Gesundheitsminister waren der Minister für Wirtschaftsentwicklung und Investitionen, Adonis Georgiadis, und der Innenminister Makis Voridis zuvor Mitglieder von Laikós Orthódoxos Synagermós (Völkischer Orthodoxer Alarm), die Partei der religiösen Rechten. Nach wie vor ist die griechisch-orthodoxe Kirche eine starke konservative Macht, mit der die Regierung den Schulterschluss sucht. Mit einem neuen Investitionsgesetz wurde die Möglichkeit zur Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen geschaffen. Investitionen sollen erleichtert und Arbeitsschutz- und Umweltschutzvorschriften ausgehöhlt werden.
Bislang war Polizei in der Universität verboten, eine Folge des Massakers, das Armee und Polizei 1973 auf dem Campus angerichtet hatten. Nun wurde eine neue Campus-Polizei installiert, ein entsprechendes Gesetz wurde im Februar beschlossen. An den wichtigen Universitäten des Landes sollen 400 Polizisten patrouillieren. Das wurde im Mai vom obersten Gericht Griechenlands bestätigt. Die ersten Campus-Polizisten sind schon im Einsatz.
Was kann die außerparlamentarische Linke dem entgegensetzen? Nach langen aufreibenden Fraktionskämpfen, zermürbender staatlicher Repression, den Corona-Wintern und der stetigen Gentrifizierung von Exarchia ist sie nicht gerade in Bestform. Allerdings regt sich sozialer Protest gegen die wirtschaftspolitischen Verschärfungen. Ende Juli haben die Arbeiter*innen der vor allem mit Retsina bekannt gewordenen Kellerei Malamatina ein Fabrikgelände in West-Thessaloniki besetzt, was eine Welle der Solidarität auslöste. Sie fordern die Wiedereinstellung von 15 Kolleg*innen und den Abschluss eines neuen Tarifvertrags. Das Unternehmen hingegen möchte den Arbeiter*innen lieber Einzelverträge anbieten, ermöglicht durch ein neues Arbeitsrecht der rechten Regierung.
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