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Das Töten der Anderen
Die USA erleben derzeit einen Anstieg des Phänomens der Massenerschießung um fast 100 Prozent. Es ist eine Gewalttat, die nahezu ausschließlich von Männern begangen wird. Was ist da los? Teil III der Reihe »Waffenland USA«
Wir wollen unseren Blick auf die USA mit einer Stilblüte der deutschen Vergangenheitsbewältigung beginnen: Als im Mai dieses Jahres ein 18jähriger Mann in einer Schule im US-Bundesstaat Texas 19 Menschen erschoß, war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen, den »deutschen Beobachtern, die über die Polizeigewalt in den USA berichten wollen«, würden »die geeigneten Worte fehlen«. Der Begriff der »Massentötung« sei »uns so unheimlich, dass wir sie allenfalls für die Opfer der Massentierhaltung verwenden. Und ›Massenmord‹? Darin waren wir Deutschen mal sehr gut. Wir wollen das Wort am liebsten gar nicht mehr verwenden«. Auf die Fragen, die diese Äußerung aufwirft – unter den wichtigsten: Wer ist »wir«? Warum gerät ausgerechnet ein Begriff in Misskredit, der eine wichtige Rolle in der deutschen Geschichte gespielt hat? – kann hier nicht näher eingegangen werden. Es kann nur betont werden: Massenerschießung ist exakt das richtige Wort, und es lässt sich durchaus auch in Deutschland verwenden.
Tödliches »Othering«
Das Phänomen selbst allerdings, damit hat die SZ recht, bleiben im heutigen Deutschland eine absolute Ausnahme. In den Vereinigten Staaten von Amerika hingegen ist diese Form der Waffengewalt in den vergangenen Jahren faktisch zum Alltag geworden, bis August 2022 zählt die US-amerikanische Dokumentationsplattform Gun Violence Archive (GVA) 419 Massenerschießungen. Damit setzt sich eine extreme Entwicklung fort: Seit 2017 stieg die Zahl dieser Massaker um 96,8 Prozent.
Die Täter von Massenerschießungen, unter denen die »School Shooter« eine Subkategorie bilden, sind »bis auf wenige Ausnahmen männliche Jugendliche und junge Männer, die ihre gekränkte Männlichkeit mit tradierten Mitteln zu restituieren suchen: durch eine selbstgerechte und Leben verachtende (todessehnsüchtige) Härte gegen andere und sich selbst«. Dies schreibt Benjamin Faust in dem bereits 2015 erschienenen Buch »School Shooting. Jugendliche Amokläufer zwischen Anpassung und Exklusion«. Die Erschießungen seien nicht »Ausdruck ungezähmter Triebhaftigkeit wie das Ergebnis eines allseits beklagten Wertezerfalls«, sondern stellten »den letzten Versuch dar, sich von einer sozialen Umwelt Anerkennung zu verschaffen, die ihnen diese Anerkennung konsequent verweigert hat«.
Eine einheitliche Definition der Massenerschießung gibt es bislang nicht; die GVA nennt es »den Akt der Verwundung oder Tötung von vier oder mehr Menschen durch eine Schusswaffe, die Person des Täters ausgenommen«. Die beiden größten Massaker des laufenden Jahres ereigneten sich im Abstand von zehn Tagen: Am 14. Mai erschoss ein Mann in Buffalo, New York, zehn Menschen in einem Supermarkt, am 24. Mai erschoss ein Mann 19 Menschen in einer Schule in Uvalde, Texas. Beide Täter waren 18 Jahre alte Weiße, die zwei verschiedene Versionen des »Anderen« viktimisierten: schwarze und/oder weibliche Menschen.
Der Täter von Uvalde hatte, wie so viele seiner Vorgänger, bereits vor seinem Anschlag mehrere Mädchen im Internet bedroht. Eine von ihnen sagte über »die Momente, in denen der Täter gruselig und bedrohlich aufgetreten war: So ist eben online« (Texas Tribune im Mai 2022). Die selbst von der Betroffenen empfundene Normalität dieses Vorgangs verweist auf die tiefe gesellschaftliche Verankerung von Sexismus und Misogynie, die selbstverständlich nicht auf die USA beschränkt ist.
Zwillingsphänomen »Truther«
Ein bizarr anmutendes Zwillingsphänomen finden die Massenerschießungen in den USA in der Verschwörungserzählung, es handele sich um Inszenierungen mit dem Zweck, die Waffenlobby zu diskreditieren. Wirkliche Opfer gäbe es nicht, vielmehr würden sie und ihre Angehörigen dargestellt von »Crisis Actors« (Krisen-Schauspieler*innen) – ein Begriff, der auf den Irrsinn der Verschwörungserzählung verweist, in die er eingebettet ist. Die vorwiegend weißen, männlichen »Truther« terrorisieren die Angehörigen der ermordeten Menschen mit der Forderung, endlich zuzugeben, dass es diese Opfer entweder gar nicht gebe oder diese noch lebten. Sie stalken die Betroffenen im Internet und in der wirklichen Welt, hacken Accounts, veröffentlichen Daten und Adressen, versehen Fotos von Grabsteinen der Opfer mit dem Kommentar »Ist nicht wirklich gestorben« und sprechen Morddrohungen aus. Klingt vertraut? Es ist dasselbe Repertoire, mit dem gewalttätige Männer gegen Frauen in ihrem Leben vorgehen, die Ermächtigungslogik von patriarchaler Partnerschaftsgewalt und sexueller Übergriffigkeit.
In den Tagen nach Massakern wie dem von Uvalde faseln Rechte in Online-Foren wie 4chan von einer »Erschiessung unter falscher Flagge, um unsere Waffen zu stehlen. Kinderopfer sind Teil der Agenda und Mittel zum Zweck. Es ist KRANK.« Diese Äußerungen kommen wahnhaft daher, haben aber vieles gemeinsam mit den Positionen der gemäßigteren Waffenfreund*innen. Die republikanische Partei etwa lässt nach jedem Massaker verlauten, die Verfügbarkeit von Waffen spiele keine zentrale Rolle in der Prävalenz von Waffengewalt – und auch diese Sicht auf die Realität besteht in deren Leugnung.
Die Verschwörungstheoretiker*innen drehen diese Logik, die letztlich auf Auslöschung des Gegenübers basiert, nur um zwei Schrauben weiter: In diesem Sinne sind auch »Fake News« im Kern eine patriarchale Bewältigungsstrategie, welche die Realität bewältigt, indem sie sie unterwirft und im Zweifel gänzlich negiert.
Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis einer dieser Verschwörungsideologen aus Zorn darüber, dass es Massenerschießungen in Wirklichkeit nicht gäbe, selbst eine begeht – Morddrohungen an Angehörige der Opfer oder Überlebende von School Shootings sind wie gesagt an der Tagesordnung. Dieser paradoxe Zirkelschluss ist integraler Bestandteil jeglicher Verschwörungslogik, und gerade durch sie zeigen sich die »Truther« als Teil der faschistoiden Gemengelage, aus denen sich die Täter der Massenerschießungen rekrutieren.
Männlichkeit als Krankheit?
Aber worum geht es diesen Leuten? Fest steht, dass gerade weiße Männer fehlende Anerkennung – ein Problem, unter dem ja eine Mehrheit der Menschen unter kapitalistischen Verhältnissen leidet – in einem Akt der Vernichtung suchen und finden. Gerade sie operieren unter der Annahme, dass ihnen Anerkennung einfach zusteht; das ist die gedankliche Grundlage dafür, sich diese im Zweifel mit Gewalt zu nehmen.
Im Phänomen der Massenerschießungen gehen die »narzisstische Kränkung« weißer Männlichkeit, sprich die empfundene oder reale Einschränkung ihrer privilegierten Position, mit einer extrem hohen Verfügbarkeit von Waffen (auf 100 Personen kommen in den USA 120 Waffen) eine tödliche Verbindung ein. Diese Täter verwirklichen ein rechtes Weltbild, in dem neben dem Phänomen des Maskulinismus auch die »Replacement Theory« wirkmächtig ist: Diese rassistische Figur eines geplanten Bevölkerungsaustauschs, die durchaus als Antwort auf die sehr reale Konkurrenz um Arbeitsplätze gedeutet werden kann – ein bürgerlicher Sachzwang, dessen Pseudo-Auflösung der Faschismus durch Vernichtungswillen betreibt. Die Ermordung anderer Menschen als Ermächtigungstat spricht Bände über die Subjektkonstitution Männlichkeit und lässt ihre soldatische Prägung sichtbar werden.
Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abott, stellt derweil »psychische Krankheit« als Grund für die Massenerschießungen in den Vordergrund; eine Richtung, in die sich der Diskurs der US-Waffenlobby und ihrer Fans in den vergangenen Jahren verschoben hat. Damit benennt Abott – der jüngst auch Abtreibungen nahezu vollständig verboten hat – unwillkürlich auch Männlichkeit als Psychopathologie. Allerdings ist diese unter herrschenden Verhältnissen eben gerade kein Einzelfall, sondern integraler Bestandteil von bürgerlicher Herrschaftssicherung. Auch in diesem Sinne ist der Akt der Massenerschießung eine politische Handlung, die Legitimation erhält mit dem Erstarken faschistisch-autoritärer Bewegungen.
Zwar sind Massenerschießungen ein gesellschaftliches Randphänomen; nur knapp 0,2 Prozent der etwa 18 000 jährlichen Schusswaffen-Tode in den USA geht auf das Konto solcher Täter. Dennoch weist allein die oben genannte Drastik des Anstiegs seit 2017 auf gesellschaftliche Signifikanz hin: Die gegenwärtige Zunahme dieser spezifischen Gewalttat steht im Kontext einer massiven Stärkung der gesellschaftlichen und parlamentarischen Rechten in den USA.
It’s Rechtsterrorismus, stupid!
Die vielerorts für Erwachsene uneingeschränkte Verfügbarkeit von Waffen in den USA ist »nur« ein Puzzleteil in dem Ganzen, aber ein wichtiges und aussagekräftiges. In einem der jüngeren Urteile des ultra-rechten Supreme Courts, welches das versteckte Tragen von Schusswaffen erlaubt, zeigt sich diese Interessengemeinschaft von parlamentarischer und gesellschaftlicher Rechter als - wenn auch umkämpfte - Staatsräson.
Vor diesem Hintergrund werden auch die Massenerschießungen erkennbar als das, was sie sind, nämlich Rechtsterrorismus. Diese Wahrheit ist aber zumal für die republikanische Partei unsagbar, weil sie damit ihre eigene patriarchal-rassistische Demagogik, welche das Recht auf Waffenbesitz einschließt, ebenso denunzieren müsste wie wesentliche Teile ihrer vorwiegend weißen Basis. Politisch sieht das dann so aus: Im Mai 2022 ließen die Republikaner im Senat den »Domestic Terrorism Prevention Act« scheitern, der sich auf Neonazis und White Supremacy konzentrieren sollte. Begründung: Man wolle nicht das Risiko eingehen, »Einzelpersonen zu Unrecht als politische Extremisten ins Visier zu nehmen«.
Um den Kreis zum deutschen Kontext zu schließen: Die Rechte in Deutschland geht zwar derzeit (noch) nicht in derselben Weise in die Offensive und hat auch nicht in ähnlicher Weise Zugang zu Waffen. Aber die Verharmlosung rechten Terrors durch das US-Herrschaftspersonal findet durchaus seine Parallele im Verhalten des deutschen Staates zum NSU-Komplex: Man hat einfach zu viel gemeinsam, um wirklich gegeneinander vorzugehen.
Die Teile I und II der Reihe »Waffenland USA« sind »Anatomie einer Weltmacht« und »Das Märchen vom kleinen Staat. Der militärisch-industrielle Komplex«. Teil IV wird sich mit dem Phänomen der rassistischen Polizeigewalt beschäftigen.
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