Für die Freiheit ins Gefängnis

Die Menschenrechtsaktivistin Chen Chu stand früher ganz vorne im Kampf gegen Taiwans Diktatur. Heute ist sie Teil der demokratisch gewählten Regierung

  • Carina Rother
  • Lesedauer: 7 Min.
Nach einer friedlichen Demonstration zum Tag der Menschenrechte 1979 in Kaohsiung wurde Chen (Mitte) vor ein Militärgericht gestellt
Nach einer friedlichen Demonstration zum Tag der Menschenrechte 1979 in Kaohsiung wurde Chen (Mitte) vor ein Militärgericht gestellt

Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Taiwan der 1970er Jahre: Unscharf zu erkennen sind Spruchbänder, Demonstrierende, Polizei und ein Gerichtssaal. Und immer wieder sie: Chen Chu*, die für ihren Aktivismus in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Mit 19 Jahren trat sie in die Untergrundbewegung »Tangwai« ein, um gegen die Kriegsrechtsdiktatur von Präsident Chiang Kai-shek zu kämpfen. »Wir forderten Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Aufhebung des Kriegsrechts, Neuwahl der Nationalversammlung und eine Direktwahl des Präsidenten«, erinnert sich die heute 70-Jährige.

Sie sitzt im eleganten Empfangszimmer ihres Büros. Zwei Sekretäre schreiben mit, während sie spricht. Interviews über ihr Leben sind für die Frau mit dem schwarzgrauen Lockenkopf und dem warmen Lächeln längst Routine. Denn Chen Chu hat eine unwahrscheinliche Karriere hingelegt: von der inhaftierten Menschenrechtsaktivistin zum Mitglied der Regierungsriege der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Heute ist sie Präsidentin des Kontrollhofs, einer der fünf Gewalten in der Verfassung, und sitzt der neu gegründeten Menschenrechtskommission vor.

Für Parteigenoss*innen ist sie eine Heldin, und die Opfer, die sie erbracht hat, haben Taiwans Demokratisierung vorangetrieben. Ihre Anhänger in der südtaiwanischen Großstadt Kaohsiung, deren Bürgermeisterin Chen zwölf Jahre lang war, nennen die Politikerin mit der mütterlichen Ausstrahlung liebevoll »Huama«, übersetzt die »Blumenmama«. Inzwischen sei »Blumenoma« passender, erklärte Chen im Interview mit dem TV-Sender TVBS lachend.

Aber es gibt auch böses Blut. Ihr Taipeher Amtskollege, Bürgermeister Ko Wen-je, griff Chen in einem Interview mit der Nachrichtenplattform Newtalk mit den Worten an: »Sie ist nicht die Einzige, die mal im Gefängnis saß.« Er warf ihr vor, sich ihre Posten nicht durch Leistung erarbeitet zu haben. Auch gegen die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit, die Chen voranbringt, regt sich Widerstand. Das ist nicht verwunderlich, schließlich ist die Nachfolgepartei der Einparteiendiktatur, die Kuomintang, größte Kraft der Opposition – und wirft der Regierung vor, politischen Profit aus der Vergangenheitsaufarbeitung zu schlagen.

Das zeigt: Erinnerungspolitik ist ein umkämpftes Feld in Taiwan – unter anderem, weil sie sehr neu ist. Erst 2016 eröffnete in Taipeh das Nationale Menschenrechtsmuseum, eine Erinnerungsstätte auf dem Boden des ehemaligen Militärgefängnisses für politische Gefangene. Es ist der Schauplatz der schwersten Jahre in Chen Chus Leben.

Knapp der Todesstrafe entgangen

Ihr Engagement für Freiheitsrechte und gegen staatliche Unterdrückung hatte der Aktivistin 1980 eine zwölfjährige Gefängnisstrafe für »gewaltsame Umsturzversuche« eingebracht. Der Todesstrafe entging sie nur knapp – im Alter von 29 Jahren.

Ihr politischer Aktivismus beginnt lange zuvor: mit ihrer Wut über die Zustände im autoritären Taiwan, das von der Welt damals als »freies China« bejubelt und als positives Gegenbeispiel zum kommunistischen China hochgehalten wird. 1949 flieht Chiang Kai-shek mit zwei Millionen Soldat*innen nach Taiwan, nachdem er das chinesische Festland an Mao Zedong verloren hat.

Zuvor steht die Insel 50 Jahre lang unter japanischer Kolonialherrschaft, bis sie 1945 von den Siegermächten an die Republik China übergeben wird – ohne Rücksprache mit den Menschen vor Ort. Auch im darauffolgenden Kalten Krieg interessiert sich die Welt wenig für das Schicksal der Taiwaner*innen: Solange Chiangs Exilregierung die Kommunist*innen in Schach hält, ist die Zusammenarbeit mit dem Diktator Mao legitim. Taiwan ist strategisch wichtig und ein unsinkbarer Raketenträger vor der chinesischen Küste – so zumindest sieht es der Westen.

Die 1950 geborene Chen zeichnet ein anderes Bild von dem Land, in dem sie aufwächst: »Überall herrschte militärische Kontrolle. Es gab keine Freiheit und Demokratie.« Das 1949 erlassene Kriegsrecht habe bis zu seiner Aufhebung 1978 alle Mechanismen eines Rechtsstaats ausgehebelt, beklagt sie: »Wer eine Partei gründete, wurde festgenommen. Eine andere Meinung als die der Regierung war nicht erlaubt. Sonst wurdest du abgeholt, heimlich verurteilt und auf abgelegene Inseln gebracht oder in Militärgefängnissen inhaftiert. Haftstrafen von zehn Jahren oder lebenslänglich waren gängig.«

Das Einparteienregime der chinesischen Kuomintang unter Chiang Kai-shek hat damals nur ein Ziel: die Rückeroberung Chinas. Mitbestimmung der einheimischen Bevölkerung ist nicht vorgesehen, ebenso wenig wie ein taiwanisch geprägtes Selbstverständnis. Ein weitreichendes Netzwerk aus Spitzeln und polizeilicher Überwachung sorgt dafür, dass Widerstand im Keim erstickt wird. Schätzungen von Historiker*innen zufolge werden von 1949 bis 1987 in Taiwan etwa 140 000 Menschen zu Unrecht eingesperrt und mehr als 4 000 Menschen exekutiert.

Chen ist sich der Gefahr durch ihr Engagements bewusst. Zu ihrer Arbeit in der geheimen Opposition gehört auch das Sammeln von Informationen über politische Gefangene und deren Familien, um sie internationalen Organisationen wie Amnesty International zuzuspielen. Von ihren Schicksalen lässt sie sich dennoch nicht abschrecken, auch nicht davon, dass sie als Frau eine Ausnahme in der männerdominierten Tangwai-Bewegung ist. Sie lacht: »Die von der Regierung dachten, die Tangwai hätte uns Frauen geraubt und gezwungen.«

Stattdessen ist es ihr starker Wille und der Zuspruch ihrer Mutter, der die Tochter einer armen Bauernfamilie zum politischen Engagement bewegt. Über ihre Mutter, die kaum lesen und schreiben konnte und schon als Kind in den Haushalt ihres späteren Ehemanns kam – damals gängige Praxis in Taiwan –, wird Chen einmal schreiben: »Sie verstand nicht viel von dem Aktivismus, den ihre Tochter so liebte. Aber sie war der Überzeugung, dass ihre Tochter das Richtige tat, und dass es das Land und die Gesellschaft voranbringen würde. Deswegen unterstützte sie mich im Stillen.«

In dem biographischen Artikel für die taiwanische Zeitschrift »Business Today« schreibt Chen auch, dass ihre Mutter ihre Promotion im Fach Öffentliche Verwaltung unterstützt habe – entgegen den Wünschen des Vaters, der seine Tochter lieber verheiratet als an der Universität gesehen hätte. Für ihren Einsatz zahlt Chen schließlich einen hohen Preis.

Festgenommen und angeklagt

Nach einer unangemeldeten Demonstration zum »Internationalen Tag der Menschenrechte« in der südtaiwanischen Stadt Kaohsiung am 10. Dezember 1979 greift die Polizei hart durch. Chen wird als eine der acht Hauptverantwortlichen festgenommen, vor ein Militärgericht gestellt und in einem Schauprozess verurteilt. Auf den Fotos der Menschenrechtsdemonstration trägt sie ein Banner und marschiert souverän in der ersten Reihe.

Auf den Bildern der folgenden Prozesstage wirkt sie immer noch entschlossen, aber gezeichnet. Vor dem Prozess muss Chen zwei Monate Polizeibefragung und Folter ertragen. Mit verbundenen Augen und gefesselten Händen sei sie völlig orientierungslos in einer feuchten, windigen Zelle festgehalten worden, erinnert sie sich schaudernd.

Das harte Vorgehen der Behörden nach dem Menschenrechtsprotest ist als Abschreckung gedacht, sollte sich aber als Fehlkalkulation erweisen. Denn in Taiwan regt sich schon seit Anfang der 1970er Jahre immer mehr Unmut über das System. Die Vereinten Nationen erkennen seit 1971 die Republik China auf Taiwan nicht länger als einzig legitime Vertreterin Chinas an. Die beiden Chinas wechseln die Plätze, Maos Volksrepublik spricht nun für ganz China.

Dass der greise Chiang Kai-shek stur an seinem Traum von der Rückeroberung Chinas festhält, anstatt als »Taiwan« in die Vereinten Nationen einzutreten und mit einer Zweistaatenlösung die Zukunft der Insel zu sichern, erzürnt viele im Land. Als Chen 1986 frühzeitig aus der Haft entlassen wird, findet sie ein verändertes Land vor: Die Protestbewegung hat in der breiten Bevölkerung Wurzeln geschlagen.

Kurz nach ihrer Haftentlassung gründet Chen mit anderen die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) – Taiwans erste offiziell anerkannt Oppositionspartei, die heute die Regierung stellt. 1987 fällt nach 40 Jahren schließlich das Kriegsrecht und das Land macht sich auf den Weg zu einer langwierigen, aber unblutigen Demokratisierung.

Chen hat ihre Ideale verwirklicht. »Taiwan ist frei und demokratisch geworden, mit vielfältigen Stimmen und Parteien«, sagt sie voller Zufriedenheit. Und dennoch bleibt ein Wermutstropfen: »Die Taiwaner haben sich Redefreiheit und Demokratie erkämpft. Aber wann wird die Weltgemeinschaft Taiwans Bevölkerung als souverän anerkennen?« Chens innigster Wunsch ist die formelle Unabhängigkeit ihrer Heimat. Aber das geht nicht, solange China im Falle einer Änderung von Landesname oder Verfassung mit Krieg droht.

»Antiabspaltungsgesetz« heißt das in der Gesetzgebung der Volksrepublik. Es ist eine permanente Sorge für Chen Chu, die um die Zukunft von Taiwans hart erkämpfter Demokratie fürchtet: »Wir hoffen, dass die anderen Länder sehen, dass Taiwans Demokratie und Freiheitsrechte nicht vom Himmel gefallen sind«, so die Menschenrechtsaktivistin. Nur gemeinsam könne die Weltgemeinschaft diese Werte bewahren.

* Chinesischsprachige Namen werden hier entsprechend der Originalschreibweise mit »Nachname Vorname« angegeben.

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