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Der Herbst ist noch nicht heiß
Abseits von großen Demonstrationen versuchen linke Gruppen in Nordrhein-Westfalen, soziale Proteste zu organisieren. Was nicht leicht ist.
Köln-Ostheim am vergangenen Samstag zur Mittagszeit. Aus einem kleinen Lkw werden Bierbänke und Tische geladen, zwei Pavillons werden aufgestellt und kistenweise Essen aufgebaut. Linke Gruppen aus der Domstadt haben zur ersten Vollversammlung gegen Preiserhöhungen aufgerufen. Es soll nett sein, eine angenehme Atmosphäre herrschen. Vom Lastwagen wird Musik gespielt, es gibt Kaffee und Kuchen, mit einem Campingkocher werden Bockwürste warm gemacht.
Dass die Vollversammlung in Ostheim stattfindet, ist kein Zufall, erklärt Arthur Winkelbach, der sich als Aktivist gegen soziale Ungerechtigkeit bezeichnet. »Hier wurde im August der Musiker und russische Militärdienstverweigerer Jozef B. bei seiner Zwangsräumung von der Polizei erschossen«, erzählt Winkelbach. Auch soziale und ökonomische Fakten sprechen dafür, in Ostheim gegen Preissteigerungen zu protestieren. Fast ein Drittel der Bewohner*innen des Stadtteils sind auf Hartz IV angewiesen. Die Hochhaussiedlung, in der Jozef B. gelebt hat, gilt als sozialer Brennpunkt. Arthur Winkelbach befürchtet, dass im Zuge steigender Energiepreise und mangelnder Unterstützung der Armen »die Polizei mit Tasern und Pistolen eine Frage beantwortet, die nicht in ihre Zuständigkeit fällt«. Winkelbach meint die soziale Frage.
Am Samstagnachmittag wollen die Bewohner*innen von Ostheim sich nicht so richtig mit dem Thema befassen. Einzelne Menschen nehmen im Vorbeigehen ein Würstchen mit oder bleiben sogar kurz stehen und unterhalten sich mit den gut 40 Aktivist*innen, die bei der Vollversammlung sind. Von einem heißen Herbst allerdings keine Spur. Das mag auch am Wetter liegen. Sonne und Platzregen wechseln sich ab. Die Bierbänke stehen notdürftig vor dem Regen geschützt unter dem Vordach einer geschlossenen Sparkassenfiliale. Nicht die besten Voraussetzungen, um sich mit wildfremden Menschen über die eigene Strom- oder Gasrechnung zu unterhalten. Ein Anwohner zeigt allerdings keine Scheu, geht ans Mikrofon und erzählt, dass sein Stromversorger den Strompreis pro Kilowattstunde um fast drei Cent erhöht habe. Er habe dagegen sofort Widerspruch eingelegt und ruft andere auf, das genauso zu machen. In anderen Redebeiträgen geht es um Möglichkeiten, sich gegen Preissteigerungen zu wehren. Ein Boykott der Energierechnungen wird dabei genauso in den Raum gestellt wie der Solidaritätsfond für das 9-Euro-Ticket.
Dass nicht viele Menschen bei der Vollversammlung waren, ärgert Arthur Winkelbach nicht. Es sei ein »kleiner symbolischer Auftakt« gewesen. Er glaubt, dass man in den nächsten Monaten mehr werden könne. Die Versammlung in Ostheim habe auch nicht auf die große mediale Aufmerksamkeit abgezielt. Wichtig sei es gewesen, in die »Diskussionen und den Austausch mit den Betroffenen des Armutsprogramms der Regierung in diesem Land« zu treten. Dafür sei es ein guter Anfang gewesen. Einige Menschen hätten erklärt, dass sie bei zukünftigen Aktionen mitmachen wollen.
Ähnlich viele Menschen wie in Köln waren einige Tage zuvor auch bei einer Vollversammlung des Netzwerks »Tasche leer, Schnauze voll!« in Düsseldorf. Das Treffen findet nicht draußen statt, sondern im soziokulturellen Zentrum für Aktion, Kultur und Kommunikation (Zakk). Schon bei der Vorstellungsrunde wird klar: Die meisten Anwesenden sind in irgendeiner Weise links organisiert. Menschen von der Linkspartei, aus Gewerkschaften, von Attac oder aus lokalen außerparlamentarischen Gruppen. Wer solche Treffen kennt, der ahnt, was dann passiert. Relativ erwartbar sprechen Menschen über ihre Lieblingsthemen. Jemand von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU fordert Mitglieder der DGB-Gewerkschaften dazu auf, doch einmal über einen Generalstreik nachzudenken. Ein Attac-Aktivist sieht in einer Änderung der Steuergesetzgebung den besten Weg aus der Krise. Soweit so erwartbar. Die wenigen Teilnehmer*innen der Vollversammlung, die keinen dezidiert linken Background haben, hören sich das alles an. So richtig ins Erzählen kommen sie erst, als sich die große Runde in kleineren Gruppen auflöst.
Die Vollversammlung ist nur ein kleiner Bestandteil der Aktivitäten von »Tasche leer, Schnauze voll!« Kürzlich stellten Mitglieder des Obdachlosenvereins »fiftyfifty« mehrere Einkaufswagen vor der Zentrale der nordrhein-westfälischen FDP ab. Sie forderten die Partei dazu auf, diese gefüllt zum Verein oder zu Suppenküchen zurückzubringen und endlich eine soziale Krisenpolitik zu machen.
Eine erste gemeinsame größere Aktion hat das »Tasche leer, Schnauze voll!«-Netzwerk am vergangenen Donnerstag durchgeführt. Thema des Protests: bezahlbare Mobilität. Gut 60 Menschen waren in Bussen und Bahnen unterwegs, hängten Plakate auf und verteilten Flugblätter. Lukas Bäumer aus dem Netzwerk berichtet von einer positiven Resonanz auf die Aktion. Viele Menschen hätten sich gefreut, dass es Protest gibt, der nicht aus der »Querdenker-Bubble« kommt. Das Netzwerk will jeden Monat am 15. eine gemeinsame Aktion durchführen, die für Aufmerksamkeit sorgt. Darüber hinaus können alle am Netzwerk Beteiligten eigene Proteste durchführen. Es sei ein Vorteil, »kein Bündnis« zu sein, sondern ein Netzwerk, in dem »die verschiedenen Akteur*innen frei darin sind, unter dem Label eigene Aktionen zu machen«, erklärt Bäumer. Das erhöhe auch die Frequenz an öffentlichen Auftritten.
Mittlerweile hat das Netzwerk auch eine öffentliche Gruppe beim Messenger Telegram eingerichtet. In der sind mittlerweile knapp 200 Menschen. Einzelne schicken Beiträge zu Protestaktionen in anderen Städten als Anregung, andere aktuelle Nachrichten zu Preissteigerungen oder Entlastungsmaßnahmen der Regierung. Dabei entstehen teilweise rege Debatten. Um mehr Menschen in die praktische Arbeit, die Vorbereitung von Kundgebungen und Aktionen einzubinden, wollen die Aktivist*innen von »Tasche leer, Schnauze voll!« regelmäßig öffentliche Treffen durchführen. Und was will man tun, um aus dem linken Dunstkreis rauszukommen? »Wir wollen gezielt an Orte gehen, an denen wir sonst nicht sind, das heißt vor Behörden wie dem Jobcenter, aber auch auf Marktplätzen in mehreren Stadtteilen in Düsseldorf«, erzählt Lukas Bäumer. Besonders im Blick hat man dabei jene Viertel, in denen die vielen von den Teuerungen Betroffenen leben.
So ein Quartier ist auch der Wuppertaler Ölberg. Dort haben Autonome am vergangenen Mittwoch zum Sperrmüllfest aufgerufen. In der Stadt im Bergischen wird der Sperrmüll vierteljährlich in jedem Stadtteil abgeholt. Mitte der Nullerjahre begann allerdings eine rassistische Stimmungsmache gegen osteuropäische »Sperrmüllfledderer«, die den Müll auf der Suche nach Wertvollem auseinanderrissen. Das Ordnungsamt fährt in den Vierteln, in denen Sperrmüll ist, seitdem verstärkt Streife und belangt Sperrmüllsammler*innen mit Bußgeldern. Was die Autonomen scharf kritisieren. Das Herausstellen und Sammeln von nützlichen Dingen ist für sie eine Möglichkeit, der Logik des Kapitalismus zu entfliehen. Deswegen feiern sie immer wieder Sperrmüllfeste. Ein Autonomer, der am Mittwochabend auf dem Otto-Böhne-Platz steht, erzählt, der öffentliche Aufruf zum Fest habe einen ganz praktischen Nebeneffekt. Dann komme das Ordnungsamt meistens nicht, weil es sich Ärger mit den Autonomen ersparen wolle. Die Menschen könnten also entspannter stöbern.
Jetzt in Zeiten der Preisexplosionen sei es noch mal deutlich wichtiger, dass der Sperrmüll »frei« bleibe. Und obwohl es am Mittwoch bis zum Abend geregnet hat, sind wirklich viele Menschen auf den Straßen des Ölbergs unterwegs. Dabei reicht die Spanne von Menschen, die vermutlich wegen des Werts beim Schrotthändler nach möglichst schweren Dingen aus Metall suchen, bis zum mittelalten alternativen Pärchen, bei dem die Suche nach Möbeln wohl eher etwas mit Lifestyle zu tun hat.
Wer warum im Sperrmüll nach Brauchbarem sucht, das ist den Autonomen ziemlich egal. Sie stehen mit etwa 40 Menschen auf einem Platz im Viertel, haben einen Pavillon aufgebaut und vegane Pizza gebacken. Eine nahe gelegene Kneipe zeigt sich solidarisch und bietet für einen Euro Bier zum Mitnehmen an. Auch hier die Parole: »Der Sperrmüll bleibt frei!« Und trotzdem wirkt das Fest eher wie ein linksradikales Familientreffen. Warum sich bisher wenige für den heißen Herbst interessieren? Man glaubt, die Härten seien bei vielen Menschen noch nicht angekommen. Neue Abschläge für Strom und Gas oder höhere Nebenkostenabrechnungen sind noch nicht da oder flattern gerade erst ins Haus. Wo viele die Teuerungen schon spürten, das sei im Supermarkt. In einer Runde wird darüber diskutiert, was man da machen könne. Dass ein Aufruf zum kollektiven »Umsonsteinkauf« noch nicht auf genug fruchtbaren Boden fallen würde, da ist man sich an diesem kalten Herbstabend in Wuppertal einig. Aber vielleicht wird das ja doch noch was, später im Jahr, wenn die Krise überall angekommen ist.
Der Weg zu einem heißen Herbst erscheint also noch weit. In Düsseldorf, Wuppertal und Köln bleiben die linken Protestgruppen bisher meistens unter sich. Das muss aber nicht so bleiben. Wenn sie einen langen Atem haben und verlässliche Ansprechpartner*innen für die Menschen werden, dann können sie in der wachsenden Not – wenn es zu Stromsperren oder Zwangsräumungen kommen sollte – einigen Erfolg haben.
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