Zweierlei Maß

Ein Foto von maskenlosen Grünen-Politikerinnen auf dem Oktoberfest sorgt in den sozialen Medien für Doppelmoral-Vorwürfe

  • Fabian Hasibeder
  • Lesedauer: 3 Min.
Der »Himmel der Bayern« wurde für sie zur PR-Hölle: Ricarda Lang (l.) und Claudia Roth.
Der »Himmel der Bayern« wurde für sie zur PR-Hölle: Ricarda Lang (l.) und Claudia Roth.

Es ist wieder Wiesnzeit! Zwei Frauen im Dirndl, die randvoll gefüllten Maßkrüge zum »Prosit« erhoben, dazwischen eine zünftige Brotzeitplatte: Normalerweise ernten solche Bilder während des Oktoberfests in den sozialen Netzwerken viele positive Reaktionen. Das ist deutsche – beziehungsweise bayerische – Kultur, da schlagen von Kulmbach bis Oberammergau die Instagram-Herzen höher und die Facebook-Daumen schnellen nach oben. Doch dieses Mal ist alles anders, denn bei den beiden Frauen handelt es sich um Claudia Roth und Ricarda Lang – beide bekannte, und auf den Fotos maskenlose, Gesichter der Grünen. Und waren es nicht die Grünen, die seit Beginn der Pandemie unermüdlich auf das Maskentragen aufmerksam machten? Jetzt also zwei Spitzenpolitikerinnen der Partei ohne Maske im überfüllten Bierzelt. Kritiker*innen prangerten diese Doppelmoral an, zogen Vergleiche zu George Orwells »Farm der Tiere« (Stichwort: »Alle sind gleich, aber manche sind gleicher.«), die »Bild«-Zeitung sprang zusammen mit anderen konservativen bis rechtsextremen Medien auf den Zug auf und der orchestrierte Shitstorm war mal wieder perfekt. Roth und Lang sind in der Vergangenheit schon unzählige Male Opfer rechter Hetzkampagnen in den sozialen Netzwerken geworden. Festzuhalten bleibt im aktuellen Fall jedoch auch, dass die Veröffentlichung der Fotos ein PR-Versagen par excellence war und Wasser auf die Mühlen der politischen Kreise, die den Grünen häufig Doppelmoral vorwerfen.

Aus dem Netz gefischt

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Aber ist das Oktoberfest nicht eh das Mekka der Doppelmoral? Man sehe sich nur den Ehrengast und ganz besonderen Fürsprecher der Wiesn, Markus Söder, an: Trat der bayerische Ministerpräsident noch vor wenigen Tagen auf dem CDU-Bundesparteitag leidenschaftlich für die Prohibition illegalisierter Drogen ein, so nahm er die erste Maß Bier, die auf dem Oktoberfest gezapft wurde, freudestrahlend an. Söder greift nach eigener Aussage meist zu alkoholfreiem Bier, kultiviert aber gleichzeitig ein Bild von sich, als sei er dem Hopfensaft in einem ungesunden Ausmaße zugeneigt. Alleine in den ersten drei Septemberwochen finden sich auf seinem Twitter-Kanal zehn Beiträge, die ihn mit einem Bier in der Hand zeigen. Nahezu täglicher, öffentlich zelebrierter Drogenkonsum bei gleichzeitiger Ablehnung der Entkriminalisierung weicher Drogen: Doppelmoral-Alarm! Wie der bayerische Landesvater zum beliebten »Wiesn-Koks« (zerkleinerter Traubenzucker mit Menthol) steht, ist leider nicht bekannt.

Doch auch abseits der moralflexiblen Christsozialen sendet das Oktoberfest, unter der Schirmherrschaft des Münchner SPD-Bürgermeisters Dieter Reiter, in Zeiten von Gaskrise und explodierenden Strompreisen, fragwürdige Signale. Mit 200 000 Kubikmetern Erdgas und drei Millionen Kilowattstunden Strom entspricht der Energieverbrauch des Volksfestes in etwa dem einer 21 000-Einwohner*innen-Stadt. Bei allem Verständnis für das Bedürfnis der Festbesucher*innen nach Ablenkung in schwierigen Zeiten muss aber auch die Frage sein: Ist ein Verschwendungsspektakel in diesem Ausmaße tatsächlich notwendig, während Politiker*innen mahnen, kürzer zu duschen oder häufiger Waschlappen zur Körperreinigung zu verwenden, um einigermaßen gut durch den Winter zu kommen?

Das größte Volksfest der Welt muss sich zudem fragen, ob es die Bezeichnung als solches überhaupt noch verdient. Bei Preisen von über 13 Euro für einen Liter Bier und 24 Euro für eine Schweinshaxe kann sich eben nicht mehr das ganze »Volk« einen Besuch auf der Wiesn leisten. Wer nicht sicher ist, ob er im Winter genug zu essen und eine warme Wohnung haben wird, reserviert eher keinen Tisch mit einem Mindestverzehr von 650 Euro für zehn Personen. Bei all diesen Widersprüchen scheint es plötzlich gar nicht mehr so ungewöhnlich – ja sogar: konsequent – dass das Oktoberfest gar nicht im Oktober, sondern im September stattfindet.

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