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Die Lücke im Diskurs
Heute ist der Internationale Tag der Bisexualität: Julia Shaw erkundet in ihrem neuen Buch die vielfältigen Facetten dieser sexuellen Orientierung
Ein Abend in einer Londoner Lesbenbar: Julia Shaw und ihre Freundin reden, lachen, küssen sich. Sie sind glücklich, fühlen sich sicher. Dann hören sie, wie zwei Frauen am Nachbartisch kichern. »Ich glaube euch nicht«, sagt eine der beiden. »Ein Kommentar, der vor Bösartigkeit nur so triefte«, schreibt Julia Shaw in ihrem Buch »Bi: Vielfältige Liebe entdecken«. Am 23. September wird international an verschiedenen Orten unter Überschriften wie Bi Visibility Day oder auch Celebrate Bisexuality Day Bisexualität als Form des Begehrens, Liebens und als Identität gefeiert. Julia Shaw wird an dem Abend in einem Buchladen in London zu Gast sein.
Wer sich fragt, warum es wichtig ist, für die Sichtbarkeit und Anerkennung bisexueller Menschen einzutreten, sollte das im Frühjahr erschienene Buch der Rechtspsychologin lesen. Darin zeigt sie, wie falsche Annahmen, Vorurteile und Ignoranz die öffentliche Meinung bis heute prägen – und das in Zeiten, in denen gern behauptet wird, Queerness sei en vogue. Bisexualität sei weder neu noch eine Modeerscheinung, schreibt Julia Shaw. »Sie ist ein völlig normaler Teil der menschlichen Sexualität.«
Eindrücklich sind Shaws Schilderungen von Erlebnissen und Entwicklungen in ihrer eigenen Biografie als bisexuelle Frau – so wie die Episode aus der Londoner Bar. Der Kommentar vom Nachbartisch verletzte sie damals. Gleichzeitig wusste sie, was gemeint war: Die Frauen am Nachbartisch kauften es ihr nicht ab, lesbisch zu sein. In diesem Moment sei ihr bewusst geworden, wie hetero sie aussehe, schreibt Shaw. Visuelle Codes spielen eine Rolle – beispielsweise, wenn es um Gruppenzugehörigkeit oder um Signale beim Dating geht.
Julia Shaw schildert ihre eigene Suche nach dem richtigen Ausdruck ihrer Identität – Lederjacken- und Camouflage-Hemd-Phasen inklusive. »Offenbar weiß keiner so recht, wie Bisexuelle aussehen (…)«, schreibt die Autorin. Nicht nur deshalb gerieten bisexuelle Menschen immer wieder in die Gefahr, fälschlicherweise als heterosexuell oder homosexuell eingeordnet zu werden.
Bisexualität scheint immer noch nicht im gesellschaftlichen Ideenrepertoire verankert. Das zeigt sich beispielsweise, wenn Menschen, die früher in einer heterosexuellen Partnerschaft gelebt haben, eine neue Beziehung mit einer gleichgeschlechtlichen Person eingehen. Schnell ist die Annahme parat, er oder sie sei schon immer schwul oder lesbisch gewesen. Die Möglichkeit, mit Menschen verschiedenen Geschlechts erfüllte Partnerschaften führen zu können, wird von vornherein ausgeklammert. Das habe wohl auch mit der langen Geschichte versteckter Homosexualität zu tun, schreibt Julia Shaw. Aus diesem Grund liege die Vermutung nahe, dass jene Menschen »in Wahrheit« homosexuell seien.
Die Autorin nutzt den Begriff Bisexualität, schließt aber auch andere Konzepte ein, darunter plurisexuell, pansexuell, omnisexuell, polysexuell oder fluide. Sie alle verbindet, dass Liebe und Begehren sich nicht auf ein einziges Geschlecht beschränken. Der Begriff Bisexualität wurde laut Shaw zum ersten Mal 1869 in einem anonymen Pamphlet verwendet. Dessen später ermittelter Verfasser Karl Maria Kertbeny engagierte sich als Aktivist für die Rechte von Homosexuellen und prägte dabei auch den Begriff »bi«, der nicht – wie häufig angenommen – für Männer und Frauen stand, sondern dafür, dass Menschen gleichzeitig homo- und heterosexuelle Neigungen haben.
Julia Shaw selbst hat sich vor ein paar Jahren als bisexuell geoutet. Die 1987 in Köln geborene und in Kanada aufgewachsene Rechtspsychologin arbeitet am University College London. Sie hat an der University of British Columbia promoviert, kürzlich am Goldsmiths College den Masterstudiengang Queer History absolviert und arbeitet zu Themen der Rechtspsychologie, Erinnerungsforschung und Sexualwissenschaften. Bekannt ist sie unter anderem durch ihren Bestseller »Böse: Die Psychologie unserer Abgründe« und den Podcast »Böse: Der True Crime Podcast«.
In ihrem aktuellen Buch adressiert sie eine Lücke im Diskurs um Liebe, Sex und Gender. Es öffnet die Augen gegenüber den Lebenswelten von Bisexuellen, ihren Kämpfen, ihrer Geschichte und den Vorurteilen und den Formen von Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind. Erfahrungen von Ablehnung machen bisexuelle Menschen sowohl unter Heterosexuellen als auch unter Homosexuellen, schreibt Shaw. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie queere Communitys aufsuchen oder sich ihnen zugehörig fühlen, sei geringer als bei Homosexuellen. Zudem sei das Ausmaß sexueller Gewalt gegen bisexuelle Menschen, besonders gegen Frauen, »schwindelerregend hoch«.
Julia Shaw zitiert erschreckende Zahlen und Fakten, schreibt über Verfolgung von queeren Menschen sowie die höchst problematische Situation, wenn Asylsuchende ihre sexuelle Identität beweisen müssen, aber auch über die schönen und erfüllenden Seiten der Bisexualität. Sie ermutigt Leser*innen, offen zu sein, die eigene Identität und das eigene Begehren zu erforschen – und öffentlich darüber zu sprechen. Denn das ist nicht selbstverständlich. Laut dem 2020 im Vereinigten Königreich veröffentlichten »Bi Report« der Organisation Stonewall hätten sich 80 Prozent der Bisexuellen bisher nicht innerhalb ihrer Familie und 64 Prozent nicht innerhalb ihres Freundeskreises geoutet, schreibt die Autorin.
Ihr Vorhaben ist ambitioniert: Auf nicht einmal 300 Seiten rast sie durch Begriffsgeschichte, naturwissenschaftliche Studien und gesellschaftliche Debatten zu schwulen Giraffen, Schafen und dem sexuellen Verhalten von Bonobos. Sie präsentiert einen wilden Ritt durch Studienergebnisse, der in populärwissenschaftlichen Büchern beliebte Stil der direkten Publikumsansprache (»Seien Sie also neugierig«) ist Geschmackssache. Aber vielleicht trägt er tatsächlich dazu bei, Leser*innen zu involvieren. Das bereits als »Bi-Bibel« gehandelte Buch bietet einen breiten, lebendigen Fundus an Informationen und kann ein inspirierender Ausgangspunkt sein, Themen weiter zu vertiefen.
Julia Shaw: »Bi: Vielfältige Liebe entdecken«, aus dem Englischen von Sabine Reinhardus, Hanser, 304 S., geb., 24 €
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