Auf Freuds Couch mit Kafkas Katze

Dialog mit Toten: Die Puppenspielkünstlerin Suse Wächter beschwört am Berliner Ensemble vollkommen virtuos »Brechts Gespenster«

In guter Gesellschaft: Suse Wächter mit Brecht und seinen Gespenstern am Berliner Ensemble
In guter Gesellschaft: Suse Wächter mit Brecht und seinen Gespenstern am Berliner Ensemble

Mit Puppen übervoll ist die Bühne des Berliner Ensembles. Vor dem schwarzen Ledersofa liegt Genosse Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, sorgsam aufgebahrt. Links finden sich die Musiker Matthias Trippner und Martin Klingeberg ein. Dahinter aber sieht man sie alle: die großen Figuren des vergangenen Jahrhunderts, unglaublich liebevoll nachgebildet. Den Anfang macht an diesem Theaterabend Franz Kafka und liest aus seinem Brief an seine Vertraute Milena Jesenská. »Briefe schreiben aber heißt«, meint der vornehm gekleidete Prager Schriftsteller, »sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten.«

»Brechts Gespenster« ist der Titel dieser 90-minütigen Inszenierung von Puppenspielerin und Puppenbauerin Suse Wächter. Eben jener Brecht muss dann auch zunächst Licht in das Dunkel der Kafka’schen Ausführungen bringen. So sympathisch wie klug daherkommend, erzählt der alte B. B. vom Geist der »Dreigroschenoper«, der in dem Haus sein Unwesen treibt. Er, die Lichtgestalt eines »Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters«, will die Gespenster nicht austreiben, sondern sie beschwören. So wie er, als er diese geschichtsträchtige Bühne am Schiffbauerdamm 1954 mit seinem Berliner Ensemble bezog, den Preußenadler über der Kaiserloge nicht etwa hat abschlagen, sondern mit roter Farbe durchstreichen lassen. Das Gespenstische erhält seine unheimliche Kraft erst dadurch, dass es nicht sichtbar ist. Brecht aber setzt auf Bewältigung durch einen konfrontativen, ja entlarvenden Zugang. Und erinnert mit seinem unorthodoxen Schüler Heiner Müller alsbald daran, dass Theater ein Dialog mit den Toten sei.

Und so fügen sich in der Folge Nummer an Nummer, ohne dass sich ein unangenehmes Gefühl der Wiederholung einstellen würde. Zwei Untote treffen hier bald aufeinander: die Vordenkerin des neoliberalen Wahnsinns, Margaret Thatcher, und der Totengräber der Brecht’schen Theaterrevolution, Manfred Wekwerth, der in den 50er-Jahren als Regieassistent an diese Bühne kam und sie von 1977 bis 1991 leitete. Thatcher wird später Brechts berühmte Verse verkehren und ihr »Lob des Kapitalismus« singen: »Er ist vernünftig, keiner versteht ihn.« Wie schwer wiegt das Erbe Brechts, wenn sich klare Botschaften so mühelos wenden lassen?

Wekwerth hingegen gibt in seiner ihm eigenen Manier den Erkläronkel und erörtert für das Publikum das epische Theater und den V-Effekt, auch wenn er zwischen Kassen- und Klassenzugehörigkeit nicht mehr ganz klar zu unterscheiden weiß. Distanz solle geschaffen werden, poltert er von der Bühne. Und beim Beobachten ist man mittendrin in diesem grundauf erneuerten Theater: Die Puppe selbst verfremdet die Vorgänge auf der Bühne, und doch scheint es hier mit Magie zuzugehen, mit ein wenig Theaterzauber, wenn die Objekte uns ganz plastisch etwas von der Welt erzählen. Fast gespenstisch, aber frei von Furcht.

Ein anderes ungleich-gleiches Paar, das im Berliner Ensemble zusammenkommt, wirft uns in denselben Widerspruch hinein. Es handelt sich um Gott – und um Karl Marx. Zwei alte, weiße Männer, rechthaberisch und mit verblüfftem Blick auf das Weltgeschehen, die doch zwillingsgleich verwandt scheinen. Bald schon machen sie den nächsten Platz: Ein siebenköpfiges Proletariat singt das »Solidaritätslied«, ein mürrischer Henry Ford meldet sich zu Wort, ehe Startenor Luciano Pavarotti sich mit der »Kinderhymne« an die Zuschauer wendet. Und auch Lenin ersteht von den Toten auf. Zwar nicht mit Brecht, aber mit Johannes R. Becher singt er – in die erste Person übertragen: »Ich rührte an den Schlaf der Welt.«

So heiter das Klassenkämpferische mitunter daherkommen mag, so wenig ergeht man sich hier nur in blödelnder, ironischer Pseudokritik. Man setzt nur nicht auf die das Politische auslöschende Betroffenheit – so ganz falsch lag der alte Wekwerth also wohl doch nicht –, sondern versucht sich an der Darstellung der Welt als erklär-, also auch veränderbare. Von der Loge aus stellt ein hölzerner Arbeiter die Selbstmordszene aus »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt nach?«, und nachdem sich die anderen Proletarier – was für ein Bild! – auf Lenins Sarg zu einer Masse formieren, werden wir Zeuge, wie Maggie Thatcher eine ganze Klasse in den Abgrund befördert.

Die Zwerge, Sinnbild der kleinen Leute, die dann die Bühne einnehmen, geben – mit der Autorin Julia Friedrichs, die in ihrem Buch »Working Class« von Menschen berichtet, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können – Auskunft über eine Putzkraft, die die Berliner U-Bahnhöfe reinigt. Eine Person, die unseren Dreck wegräumt und selbst wie Dreck behandelt wird.

Es ist kein Geheimnis, dass das seit fünf Jahren unter Intendant Oliver Reese neu formierte Berliner Ensemble vor allem von seinen herausragenden Schauspielern lebt. Bei Weitem nicht jeder Abend der letzten Spielzeit ist geglückt an diesem Haus, an den Darstellern aber liegt es selten. Und dennoch kommt man nicht umhin zuzugeben, dass die von Suse Wächter und Hans-Jochen Menzel genial geführten Puppen keinerlei Anlass geben, Schauspieler auf der Bühne zu vermissen. Das erst von Menschenhand belebte Ding zieht den Zuschauer in den Bann. Wenn jede Puppe dann noch mit vielen spielerischen Feinheiten, mit kleinen Marotten und Eigenheiten versehen wird, könnte man stundenlang zusehen.

Suse Wächter ist mit ihren Puppen ein kluger, aber nicht schwerer Theaterabend gelungen, der sich wohltuend abgrenzt von den kraftmeierischen Darbietungen anderer Bühnen. Eine Inszenierung, die eine Liebeserklärung an die darstellende Kunst ist. Ein Stück mit und über Brecht. Und selbst das Insiderische, das der einen oder anderen Szene anhaftet, verzeiht man gern, tut es dem Sehvergnügen sicher keinen Abbruch. Am Ende kommen sie alle noch mal zusammen, die Zeitgenossen Brechts und seine Schüler, seine Nachfolger und Freunde und Feinde im Geiste. Mit Sigmund Freud geht es dann auf die Couch. Neben Marx und Gott und Kafka findet auch die Katze aus der berühmten Fabel des Letzteren ihren Platz und entpuppt sich als: Schrödingers Katze. Für Gedankenexperimente aller Art scheint das Theater Brechts noch immer der angemessene Ort. Und für die Erkenntnis, dass Denken auch Vergnügen ist.

Nächste Vorstellungen: 22., 23., 26.9. und 14.10.
www.berliner-ensemble.de

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