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Stabilisierung auf Raten
Die Krankenversicherung wird teurer, eine strukturelle Reform lässt aber auf sich warten.
Der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) droht für das kommende Jahr ein Defizit in Höhe von etwa 17 Milliarden Euro. Ein am Freitag im Bundestag in erster Lesung diskutierter Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes soll dieses Finanzierungsloch kurzfristig stopfen. Dazu soll der durchschnittliche Zusatzbeitrag um etwa 0,3 Prozent angehoben werden, außerdem sollen vorhandene Finanzreserven der Kassen herangezogen werden. Der bestehende Bundeszuschuss für die GKV wird für 2023 um zwei Milliarden Euro erhöht, der Bund gewährt zudem ein unverzinsliches langfristiges Darlehen von einer Milliarde Euro. Die Debatte im Bundestag war von gegenseitigen Vorwürfen geprägt, obwohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbauch (SPD) ausdrücklich darum gebeten hatte, auf Polemik zu verzichten.
Ursache für das Rekorddefizit sind die geringeren Einnahmen aufgrund der Pandemie, am demografischen Wandel und an steigenden Kosten durch technische Fortschritte in der Medizin. Außerdem wird eine Abnahme der Beitragszahlungen an die GKV erwartet, weil die Zahl der Beschäftigten zurückgeht. Die steigenden Kosten durch Inflation und Energiekrise sind in den 17 Milliarden noch nicht einkalkuliert. In vielen Krankenhäusern gibt es einen Modernisierungs- und Innovationsstau, der einen effektiven und sparsamen Energieverbrauch verhindert. Der in der Corona-Pandemie an die Kassen gezahlte außerordentliche Steuerzuschuss von 14 Milliarden Euro wird im nächsten Jahr nicht erneut gezahlt werden.
Lauterbach wies in seiner Vorstellung des Gesetzes darauf hin, dass es zu den Grundprinzipien seiner Amtsführung gehöre, Leistungskürzungen in der Gesundheitsversorgung zu vermeiden. Dies sei gerade in kritischen Zeiten wie diesen für das Sicherheitsgefühl der Menschen wichtig. Alle Beteiligten am Gesundheitssystem müssten einen Beitrag zu dessen Stabilisierung leisten. 90 Prozent des Defizitausgleichs würden nicht über die Krankenversicherten generiert, das sei gerecht.
Explizit verteidigte der Gesundheitsminister die teilweise Auflösung der finanziellen Reserven der Kassen. Diese seien sehr ungleich verteilt, Reserven in solchen Höhen seien in Krisenzeiten nicht angemessen. Zudem würden manche Kassen ihre finanziellen Spielräume dazu verwenden, ihre Vorstände sehr gut zu bezahlen, manche Vorstände würden »deutlich mehr verdienen als der Bundeskanzler«, so Lauterbach.
Die geplante Streichung der Neupatientenpauschale sei allerdings durchaus als Leistungskürzung zu verstehen, kritisierte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Dagegen richtet sich seit Bekanntwerden des Gesetzentwurfs die häufigste Kritik aus der Ärzteschaft. Erst Mitte September hatten Vertreter*innen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dem Bundesgesundheitsminister 50 000 Protestunterschriften dagegen zukommen lassen. Ohne die Pauschale drohten unausweichliche Leistungskürzungen, heißt es in dem Schreiben. Eine Online-Umfrage der Ärzte-Zeitung Mitte September ergab, dass 60 Prozent der Teilnehmenden Praxis-Schließungen für das beste Mittel halten, ihren Widerstand gegen die Streichung zum Ausdruck zu bringen. Wie viele Ärzt*innen an der Umfrage teilgenommen haben, gab die Zeitung nicht bekannt.
Die Neupatientenregelung war erst 2018 mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführt worden. Sie sieht vor, dass Praxen für jede*n Neupatient*in ein Extrabudget in voller Höhe der Behandlungen vergütet bekommen. Ob diese Extravergütung allerdings tatsächlich dazu beiträgt, dass Neupatient*innen schneller einen Termin beim Facharzt bekommen, ist unklar.
Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) hält die Kritik an der geplanten Abschaffung der Neupatientenregelung für nicht vom Patientenwohl geleitet, sondern »einzig gespeist vom betriebswirtschaftlichen Partikularinteresse« Einzelner. »Eine Belohnung« für die Behandlung neuer Patient*innen sei »absurd«. Das in dem offenen Brief gezeichnete Bild von der ökonomischen Lage der niedergelassenen Ärzt*innen hält der vdää für nicht gerechtfertigt. Die Praxen seien insgesamt gut durch die Pandemie gekommen, die Honorare seien »stabil bis leicht steigend«.
Lauterbach kündigte an, bald Vorschläge zur finanziellen Unterstützung der Krankenhäuser wegen der steigenden Energiepreise vorzulegen. Auch eine nachhaltige und strukturelle Stabilisierung der Kassenfinanzen soll kommen. Mehrere Redner*innen der CDU/CSU und der Linkspartei kritisierten Lauterbach dafür, es seit längerem bei Ankündigungen zu belassen.
Der vdää regt an, das drohende Defizit könne mit Hilfe einer »solidarischen Bürger*innenversicherung« angegangen werden, »die alle Einkommen und Einkommensarten in voller Höhe verbeitragt«. Diese hätten sowohl die SPD als auch die Grünen in ihren Wahlprogrammen. Dazu müsse allerdings die private Krankenversicherung als Vollversicherung abgeschafft werden.
Am 28. September ist der aktuelle Gesetzentwurf Gegenstand einer Expert*innenanhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Für den 20. Oktober sind die zweite und dritte Lesung des Entwurfes im Bundestag angesetzt. Eine Woche später behandelt der Bundesrat den Entwurf abschließend.
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