I never feel lonely

Olga Hohmann denkt über urbanes Alleinsein nach

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich erinnere mich an eine Szene aus einer Early-2000er-Fernsehsendung, die meine Mutter damals geschaut hat, ich neben ihr auf dem Sofa sitzend, mich fremdschämend für den ganz normalen Wahnsinn der Erwachsenen. Eine alleinstehende Anwältin sieht jeden Abend denselben attraktiven Mann hinter der Fensterscheibe des Hauses gegenüber. Anfangs registriert sie ihn nur, während sie abends Palak Paneer oder Rindfleisch Szechuan Art isst. Jeden Abend sitzt die humorvolle Anwältin also essend allein auf ihrer Couch, und jeden Abend dreht sie sich ein Stückchen weiter in Richtung des schönen Mannes, der zuverlässig hinter dem Fenster steht, ihr meistens den Rücken zudreht, telefonierend, in der Nase bohrend – bis er auf sie aufmerksam wird, sich zu ihr dreht, erst ein einzelner Blick über die Schulter, dann ein zweiter und plötzlich ein sich breit öffnendes Lächeln.

Als sie sich am nächsten Abend wieder auf die Couch setzt, ist sie aufgeregt, sie hat sich extra nur einen Caesar Salad geholt und ein leicht transparentes Oberteil angezogen. Dann die Enttäuschung: Er ist nicht da. Trotzdem: Möglichst bedacht befördert sie ihren Caesar Salad in ihren Mund, vielleicht taucht er ja noch auf. Und das tut er, plötzlich zeichnet sich seine Silhouette hinter der Scheibe ab, wird klarer – er tritt aus dem Halbschatten, schaut sie an und öffnet, sie errötet sofort, erst einen, dann zwei Knöpfe seines Hemdes. Sie versucht nicht peinlich berührt zu grinsen, während sie einen Träger ihres ohnehin transparenten (aber durch zwei Schichten schmutzige Fensterscheiben nicht erkennbaren) Tops möglichst lasziv nach unten fallen lässt. Der Fremde wirft ihr eine Kusshand zu und dreht sich um. Fast erleichtert zieht sie die Gardinen zu, schaufelt den Rest ihres Salats in sich hinein, lässt sich gegen die Rückenlehne der weichen Couch fallen und masturbiert ein bisschen. Aber nur kurz, denn für den nächsten Tag sind wichtige Meetings geplant. Auf die kann sie sich dann aber ohnehin nicht konzentrieren, denn sie ist in Gedanken damit beschäftigt, was wohl noch geschehen wird – das Geschehen hinter der Fensterscheibe kommt ihr plötzlich realer vor als das Gefasel ihrer anzugtragenden Kollegen am Konferenztisch. Als sie am Abend nach Hause kommt, das Abendessen lässt sie ausfallen, steht der Mann von gegenüber schon bereit, die Szene vom Abend zuvor wiederholt sich, aber sie gehen ein Stück weiter – er zeigt seinen ganzen Waschbrettbauch, sie erst eine ihrer Brüste, dann auch die andere. Stück für Stück wird sie selbstsicherer, errötet nur noch leicht und fängt sich wieder. Die Anwältin ist für einen Moment in ihrem Himmel – innerhalb der anonymen Großstadt scheint es völlig unverhofft Raum für märchenhafte Begegnungen zu geben.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Was wie der Anfang einer (mindestens erotischen) Geschichte scheint, setzt sich nicht fort – der Mann erscheint nie wieder am Fenster, und nach einer Weile hat die Anwältin ihn fast vergessen, nur im Traum erscheint er ihr noch ab und an. Sie fängt an, sich zu fragen, ob sie sich die Begegnung vielleicht nur eingebildet hat. Da sieht sie ihn im Supermarkt am Kühlregal stehen. Sie schickt ein freudig-nervöses Stoßgebet gen Himmel, fasst sich ein Herz und geht auf ihn zu. Sie tippt ihm von hinten auf die Schulter, er dreht sich um, sie lächelt, er runzelt die Stirn. Sie sagt, immer noch lächelnd: »Ich bin’s«. Er neigt den Kopf leicht, da erscheint auf seinem Gesicht ein Ausdruck des Erkennens und er sagt: »Ah, du bist die Nachbarin von dem Typen, mit dem ich vor ein paar Wochen geflirtet habe, als ich auf die Katze von meiner Mutter aufpassen musste.« Ich erinnere mich genau: Der Protagonistin weicht jede Farbe aus dem Gesicht, sie geht ein paar Schritte rückwärts, fällt dabei fast in den Gemüsestand, dreht sich um, geht im Laufschritt aus dem Supermarkt, klaut dabei versehentlich ein Glas Erdnussbutter und rennt nach Hause.

Einen Tag später verschluckt sie sich, die Gardinen beim Essen jetzt immer geschlossen, an ihrem Szechuan-Rind, versucht in der Not des Beinahe-Erstickens ihre Freundin zu erreichen, die nicht ans Telefon geht, weil sie gerade im Nagelstudio ist, hustet mit letzter Kraft den Fleischbrocken nach oben und wird am nächsten Tag mit einer Panikattacke in die Notaufnahme gebracht. Die Angst davor, einsam in der Großstadt zu sterben, unentdeckt, weil unvermisst, hätte sie fast umgebracht. Der kurze Hoffnungsschimmer verstärkte das Gefühl des Alleinseins, an das sie sich vorher bereits gewöhnt hatte, nur noch.

In der Großstadt, sei es eine Metropole wie New York City oder auch eine eher provinziell wirkende große Stadt wie Berlin, ist man anders allein als an anderen Orten. Man ist allein unter Menschen. Den anderen Menschen ist egal, wie allein man ist – das heißt, ob man es ist oder nicht. Anonyme Einsamkeit, they simply don’t care. Anders als in kleinen Städten wird man nicht einmal verurteilt für das Alleinsein, niemand registriert die eigene Einsamkeit und schaut auf einen herab, man ist es einfach. Allein allein. Man kann sich ihr hingeben, man kann vielleicht sogar ein Gefühl der Freiheit in ihr finden – Autonomie statt social anxiety. They simply don’t care.

Übrigens – Begegnungen von einer Seite der Fensterscheibe zur anderen sind immer besser als in real life. Wie auf einem Screen saß der lockige Architekt an seinen Plänen – eineinhalb Jahre lang ging ich fast jeden Morgen an ihm vorbei, erst sahen wir uns nur, dann lächelten wir uns zu, irgendwann winkten wir uns sogar. Ich war mir natürlich nach kurzer Zeit sicher, dass es sich bei dem lockigen Architekten um the one handeln musste. Als mich eines Nachts in der Schlange vor dem Sparkassenautomat am Kotti ein lockiger Mann anlachte, ich betrunken aus dem Möbel Olfe kommend, hatte ich keine Ahnung, um wen es sich handelte. Ich drehte mich um, denn ich vermutete, dass er jemand anders meinte. Der Typ grinste weiter, ich schaute genervt auf den Boden und ignorierte ihn, bis er auf sein Rennrad gestiegen und weggefahren war. Erst Tage später realisierte ich, dass ich the one im Augenblick unserer bedeutungsvollen Begegnung ganz einfach nicht erkannt hatte. The one lächelte mich nie wieder an, selbst als ich mich penetrant winkend vor die Fensterscheibe stellte, ignorierte er mich.

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