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Mehr wert als nur den »Gotteslohn«
Sozialverband VdK fordert stabile finanzielle Absicherung für pflegende Angehörige
»Nächstenpflege macht arm. Das ist die erschütternde Wahrheit, die wir mit den aktuellen Zahlen genau belegen können«, sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Verena Bentele, bei der Vorstellung zweier Studien zur finanziellen Situation pflegender Angehöriger am Dienstag in Berlin. Sie appellierte an die Bundesregierung, namentlich an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), pflegende Angehörige endlich finanziell besser abzusichern und deren Armutsrisiko zu bekämpfen. Bisher sei aus dem Ministerium gar nichts in diese Richtung gekommen, obwohl die Einführung einer Lohnersatzleistung im Koalitionsvertrag stehe.
In der Berichterstattung bekomme man oft den Eindruck, als lebten alle Pflegebedürftigen in Deutschland in Heimen, dabei würden 82 Prozent von ihnen zu Hause gepflegt – und diese Tendenz steige ständig, sagte Bentele. »Ohne den Einsatz der pflegenden Angehörigen wäre die pflegerische Versorgung in Deutschland am Ende«, so die VdK-Chefin weiter. Dennoch bedeutet die Entscheidung, ein Familienmitglied zu betreuen, häufig einen Verzicht auf finanzielle Sicherheit: Ausstieg aus dem Job, Arbeit in Teilzeit, Lohnverlust und wenige Punkte auf dem Rentenkonto sind oft die Folge. Jeder fünfte pflegende Angehörige ist armutsgefährdet, bei pflegenden Frauen ist es sogar jede vierte. Zu diesem Ergebnis kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seiner vom VdK in Auftrag gegebenen Studie.
Als einen Weg aus der Armut fordert der VdK Deutschland einen Lohn für pflegende Angehörige. Johannes Geyer vom DIW Berlin berechnete, dass sowohl ein Lohnersatz als auch ein fester Lohn für pflegende Angehörige das Armutsrisiko deutlich verringern könnten. Der Lohnersatz richtet sich nach dem letzten Gehalt, der Lohn dagegen nach dem Pflegegrad des Pflegebedürftigen und damit nach der tatsächlichen Tätigkeit. Letzteres helfe insbesondere Frauen, die bereits ihre Wochenarbeitszeit reduziert oder ihren Job ganz aufgegeben hätten, sowie Eltern von pflegebedürftigen Kindern. Damit sinke die Armutsgefährdungsquote von pflegenden Frauen am deutlichsten, so Geyer.
Das bisherige Pflegegeld könne hingegen nicht als Lohn beziehungsweise Lohnersatz für pflegende Angehörige betrachtet werden, sind sich Bentele und die Studienautoren einig. »Es entstehen so viele Kosten, zum Beispiel für Medikamente und unterstützende Dienstleistungen, die durch das Pflegegeld nicht gedeckt sind«, sagte der Pflegewissenschaftler Andreas Büscher. Die Höhe des geforderten Lohns sollte sich nach dem Aufwand der Pflege richten, nicht nach dem letzten Gehalt. »Die Pflege durch eine Geringverdienerin ist genauso viel Wert wie die Pflege durch einen Gutverdiener«, so Bentele. Und überhaupt müsse die Leistung für die Pflegenden höher sein als der sogenannte »Gotteslohn«. Finanziert werden könne der tatsächliche Lohn durch eine Kombination aus der Pflegeversicherung und Steuermitteln. »Bei dem von uns geforderten Pflegelohn handelt es sich um eine gesellschaftlich wertvolle Leistung, denn wer soll denn die Pflege übernehmen, wenn es die Menschen zu Hause nicht mehr können?«, fragte die VdK-Präsidentin.
Weitere wichtige Erkenntnisse zur finanziellen Lage pflegender Angehöriger lieferten die ebenfalls am Dienstag vorgestellten Ergebnisse einer Online-Befragung der Hochschule Osnabrück, die im vergangenen Jahr von Büscher durchgeführt wurde. Demnach geben 49 Prozent aller Pflegenden, die nicht mehr Vollzeit erwerbstätig sind, an, dass sie ihre Arbeitszeit aufgrund der Pflege reduziert hätten. So verlieren sie Rentenpunkte und Einkommen. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen weiter: Für ein Drittel der Pflegenden sind finanzielle Sorgen ein täglicher Begleiter, sie verzichten aus Kostengründen sogar auf wichtige professionelle Entlastung. Über 50 Prozent geben an, Leistungen wie Pflegedienst, Tages-, Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege nicht in Anspruch zu nehmen, weil sie zu viel zuzahlen müssten.
Wie eine stabile finanzielle Absicherung aussehen könne, verdeutlichte Bentele am Beispiel des Burgenlandes in Österreich. Dort seien die pflegenden Angehörigen bei der Kommune angestellt und hätten dadurch ein gutes Auskommen, eine sichere Rente und seien zudem kranken-, pflege- und arbeitslosenversichert. Hinzu komme, dass die Pflegenden dort über Weiterbildungen und ähnliches viele soziale Kontakte untereinander hätten, während jene in Deutschland oft auch von Vereinsamung betroffen seien.
In einer ersten Reaktion auf die Studienergebnisse sagte Ates Gürpinar, Sprecher für Krankenhaus- und Pflegepolitik der Linksfraktion im Bundestag, dem »nd«: »Es ist eine Katastrophe, dass die Bundesregierung pflegende Angehörige nicht endlich armutsfest absichert, sondern sich auf deren Verantwortungsbewusstsein und Opferbereitschaft verlässt, statt das System der Pflege zu reformieren.« Er fordert als ersten Schritt einen sofortigen Inflationsausgleich beim Pflegegeld und langfristig eine eigene finanzielle Absicherung für alle, die pflegen. Aus dem Bundesgesundheitsministerium gab es auf »nd«-Nachfrage bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu den Forderungen des VdK.
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