Ein Tag zum Vergessen

Wegen schwerer Pannen am 26. September 2021 muss die Berlin-Wahl wohl komplett wiederholt werden, meint das Verfassungsgericht

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 10 Min.

Die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (kurz: Die Partei) hat am Mittwochmorgen an der Berliner Fabeckstraße, Ecke Arnimallee einen Stand aufgebaut. In dieser Partei tummeln sich Kabarettisten, Satiriker und andere Spaßvögel. Heute hat ein knappes Dutzend von ihnen zusammengefunden, um die chaotischen Zustände und die damit einhergehenden Demokratiedefizite bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl am 26. September 2021 zu verhohnepiepeln. Mit dabei ist die Landesvorsitzende Marie Geissler, die sich lieber mit ihrem Künstlernamen Vux ansprechen lässt. Eine halbe Stunde später, als der Berliner Verfassungsgerichtshof den Einspruch ihres Landesverbandes gegen die Gültigkeit der Wahl verhandelt, wird sie dann natürlich mit ihrem bürgerlichen Namen vorgestellt.

Am Infostand ihrer Partei können Passanten ihre Stimme auf einem ulkigen Stimmzettel abgeben und danach gleich schreddern. Dieser Stimmzettel ist absichtlich fehlerhaft, aber bei der echten Wahl 2021 sind ja auch fehlerhafte Stimmzettel gedruckt worden. So kandidieren laut Geissler und ihren Mitstreitern für die SPD beispielsweise »Herr Sauron« (ein Bösewicht auf der Fantasie-Trilogie »Herr der Ringe«) und die Kinderliteraturfigur Pippi Langstrumpf. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht (Linke) finden sich auf der Liste der Cis-männlichen Dysfunktionalen Union (CDU). Warum das? »Weil es lustig ist.« Hier tritt Die Linke auch nicht für sich allein an, sondern als »Die zerstrittene Linke« in einer »Rest« genannten Listenvereinigung mit der »verfickten AfD«. Unter den Kandidaten dieser Liste finden sich der russische Präsident Wladimir Putin und Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) zusammen mit der Schlagersängerin Helene Fischer. Thunder Nitsche, der natürlich auch einen anderen Vornamen in seinem Personalausweis stehen hat, kommentiert das so: »Wir sind keine Anhänger der Hufeisentheorie. Wir mussten nur aus Platzgründen die Kleinstparteien zusammenführen.« Sich selbst ordnet Nitsche politisch der »extremen Mitte« zu.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin am 26. September 2021 wurde die SPD mit 21,4 Prozent stärkste Partei. Es folgten die Grünen (18,9), die CDU (18,0) und Die Linke (14,1). Auch AfD (8,0) und FDP (7,1) schafften es ins Landesparlament. Großer Gewinner gegenüber 2016 waren die Grünen, große Verlierer die AfD. Nach der Wahl wurde die Koalition aus SPD, Grünen und Linke neu aufgelegt.
Wegen zahlreicher Probleme am Wahltag (gewählt wurden auch der Bundestag und die zwölf Berliner Bezirksparlamente; zur Abstimmung stand außerdem ein Volksentscheid) konnten längst nicht alle Wahlberechtigten und -willigen ihr Wahlrecht regulär ausüben. 35 Einwände gegen die Wahl wurden eingereicht.
Wenn heute in Berlin gewählt würde, ergäbe sich ein verändertes Bild. Zwar könnte Rot-Rot-Grün seine Arbeit fortsetzen, aber unter veränderten Vorzeichen. Stärkste Kraft in der Hauptstadt wären einer jüngsten Umfrage von Infratest Dimap zufolge die Grünen mit 22 Prozent, gefolgt von der CDU (21), der SPD (17) der Linken (12), der AfD (10) und der FDP (6). Sollte es zu Neuwahlen kommen, würden diese wahrscheinlich im Frühjahr 2023 stattfinden. ­­nd

Doch genug der Scherze, denn der Anlass ist ein sehr ernster. Die Vorbereitung und Durchführung der Wahl am 26. September 2021 war von so massiven Fehlern und Pannen begleitet, dass sich das Landesverfassungsgericht zunächst gar nichts anderes vorstellen kann, als die Abstimmung über das Berliner Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen komplett wiederholen zu lassen. Das sagt Gerichtspräsidentin Ludgera Selting in einer ersten Einschätzung der rechtlichen Situation zu Beginn der mündlichen Verhandlung in kaum zu überbietender Deutlichkeit. Sie fügt natürlich hinzu, dass es nach der Diskussion mit den Beschwerdeführern noch eine Beratung geben werde: mit der stellvertretenden Wahlleiterin Ulrike Rockmann, Innenstaatssekretär Torsten Akmann, der Parteivorsitzenden Marie Geissler und der AfD-Landesvorsitzenden Kristin Brinker sowie ihren Mitarbeitern, Vorstandskollegen und Rechtsanwälten. Danach könnte sich die Einschätzung des Verfassungsgerichts noch ändern. Doch nach den unverblümten Ausführungen von Präsidentin Selting ist schwer vorstellbar, wie sie und ihre acht Kolleginnen und Kollegen sich noch umstimmen lassen sollten.

Der Verfassungsgerichtshof sitzt in der Elßholzstraße. Doch die Räumlichkeiten dort wären dem erwarteten Andrang nicht gewachsen. Denn neben Journalisten dürften nicht nur sämtliche Abgeordnete und Bezirksverordnete zuschauen, sondern auch alle Kandidaten, die vor einem Jahr nicht gewählt worden sind. Deshalb wird in einem großen Hörsaal der Freien Universität an der Arnimallee 22 in Dahlem verhandelt. Das ist so noch nie dagewesen, klappt aber bei guter Organisation ausgezeichnet – ganz im Gegensatz zu den Verhältnissen bei der Wahl.

Die Landeswahlleitung wollte ausschließlich eine Nachwahl der Erststimmen für die Person in den Wahlkreisen Charlottenburg-Wilmersdorf 6 und Marzahn-Hellersdorf 1. Das wollte die Senatsinnenverwaltung zusätzlich auch noch im Wahlkreis Pankow 1. Die Partei begehrte neue Abstimmung in 26 von insgesamt 78 Wahlkreisen, die sich auf acht von zwölf Berliner Bezirken verteilen. Die AfD verlangte, flächendeckend für die Abgeordnetenhauswahl noch einmal die Zweitstimmen für die Parteien ankreuzen zu lassen und monierte auch die Wahlen zur den Bezirksverordnetenversammlungen. Eine komplette Neuwahl, wie sie das Verfassungsgericht jetzt ins Auge fasst, forderte niemand.

Richterin Selting legt aber dar, warum kein Weg daran vorbeiführt. Grundlage dafür bildet ein Sachstandsbericht, verlesen von Richterkollegin Sabrina Schönrock. Darin findet sich, was zu großen Teilen schon unmittelbar nach der Wahlpleite in den Zeitungen stand und was viele Berliner am 26. September 2021 am eigenen Leibe erfuhren. In der Zusammenfassung macht es aber noch einmal fassungslos. Es waren besondere Umstände. Gleich sechs Kreuze auf fünf verschiedenen Stimmzetteln durften die Wähler machen. Zu entscheiden war über den Bundestag, das Abgeordnetenhaus, die Berliner Bezirksparlamente und außerdem noch über den Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Zu allem Überfluss fand an diesem Tag auch noch der Berlin-Marathon mit 27 000 Läufern statt, wegen dem viele Straßen gesperrt wurden. Als in zahlreichen Wahllokalen die Stimmzettel ausgingen, kamen die Fahrzeuge nicht durch, die nachliefern sollten.

Doch alles war vorhersehbar und dass etliche Wahllokale morgens um acht Uhr nur mit einer Grundausstattung von 300 Stimmzettel-Sätzen öffneten, hätte eigentlich nicht sein dürfen. Denn nach den Vorschriften müssten spätestens am Vorabend des Wahltags ausreichend Stimmzettel für den gesamten Wahltag vor Ort sein. Empfohlen war übrigens, ein Wahllokal für je 750 Wahlberechtigte einzurichten. In Treptow-Köpenick waren es aber über 800 – und dieser Bezirk wies noch die günstigste Relation auf. In Pankow gab es durchschnittlich 1300 Wahlberechtigte pro Wahllokal und in der Spitze 1500. Berliner Durchschnitt waren 1000.

Die Bezirkswahlleiter hatten angesichts der Corona-Pandemie krass voneinander abweichende und völlig falsche Vorstellungen, wie hoch der Anteil der Briefwähler sein würde. Neukölln rechnete vorher mit einer Quote von 35 Prozent, Friedrichshain-Kreuzberg mit 80 Prozent. Doch Richterin Selting stellt klar: »Die Briefwahl ist eine Alternative zur Präsenzwahl, aber sie soll diese nicht ersetzen.« Zum Schutz vor Corona-Infektionen erging vor dem Abstimmungstermin noch der Ratschlag an die Bezirke, nur zwei Wahlkabinen pro Wahllokal einzusetzen. Tatsächlich waren es dann statistisch 2,3 Kabinen pro Wahllokal, aber damit immer noch viel zu wenig. Die Rechnung, dass jeder Wähler drei Minuten benötigt, um die überlangen Stimmzettel aufzuklappen und auszufüllen, ging vorne und hinten nicht auf. Es bildeten sich draußen lange Schlangen, teilweise mussten Bürger stundenlang anstehen. »Nicht zumutbar« seien solche Zustände, erläutert Selting. Tatsächlich könnte der eine oder andere entnervt aufgegeben und auf sein Wahlrecht verzichtet haben, insbesondere dann, wenn Wahllokale mangels Stimmzetteln vorübergehend dicht machten. Stadtweit waren Wahllokale zusammen 83 Stunden geschlossen.

Nicht zulässig sei, dass 1066 von 2256 Wahllokalen weit über 18 Uhr hinaus geöffnet hatten – für alle zusammen waren es 350 Stunden länger. Die rechtlichen Vorschriften besagen, dass einige wenige Leute, die knapp um 18 Uhr das Wahllokal betreten oder davor stehen, ihre Stimme noch abgeben dürfen. So lange nach der offiziellen Schließzeit und so massenhaft darf das aber nicht vorkommen. Um 18 Uhr senden Fernsehen und Radio ja bereits die erste Prognose und das soll die Leute in ihrer Wahlentscheidung nicht beeinflussen. Es könnte sich beispielsweise jemand sagen: Meine Wunschpartei scheitert jetzt vielleicht an der Fünf-Prozent-Hürde, da wähle ich lieber eine andere, um meine Stimme nicht zu verschenken. Das verzerrt dann das Wahlergebnis.

Was auch nicht zulässig, aber in rund 4000 Fällen vorgekommen ist: Als die Stimmzettel knapp wurden, schnitten die Wahlhelfer einen durch und legten ihn auf den Kopierer. Dabei ist das alles nach Einschätzung des Verfassungsgerichts nur die Spitze eines Eisbergs. Bei der Menge der Unregelmäßigkeiten sei es unmöglich, alle Wahlfehler zu erfassen. Es sind mit sehr großer Wahrscheinlichkeit längst nicht alle Fehler protokolliert worden.

»Die Integrität des Wahlergebnisses ist durch die Fülle der Wahlfehler beschädigt«, bedauert Gerichtspräsidentin Selting. Würden die Wahlen nicht in Gänze wiederholt, wäre »die Demokratie in Berlin dauerhaft beschädigt«. Das Vertrauen lasse sich nur durch Neuwahlen wiederherstellen. Ob sich dadurch sehr wahrscheinlich an der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses etwas ändert, sei nicht erheblich. Es sei ausreichend, dass dies möglich wäre. Es lasse sich nicht damit argumentieren, dass die Verteilung der Stimmen ja den damaligen Umfragewerten entsprochen habe, denn dies würde Wahlen entwerten, man könnte sie dann getrost durch Meinungsforschung ersetzen.

Bei den Erststimmen für die Person könnte man in einzelnen Wahlkreisen theortisch das Ergebnis gelten lassen, wenn der zweitplatzierte Kandidat deutlicher hinter dem Sieger zurückliegt, als Stimmen durch Wahlfehler fraglich sind. Bei den Zweitstimmen aber genüge bereits eine dreistellige Zahl, um das Ergebnis ungültig werden zu lassen. Da in der Berliner Verfassung steht, dass die Bezirksverordnetenversammlungen zeitgleich mit dem Abgeordnetenhaus gewählt werden müssen, versteht sich eine Wiederholung der Bezirkswahlen dann von selbst.

»Es muss jetzt sichergestellt werden, dass sich solch ein Debakel auf keinen Fall wiederholt«, reagierte Linke-Landesgeschäftsführer Sebastian Koch. Die vorläufige Einschätzung des Verfassungsgerichts nennt er ein »komplette Klatsche für den damaligen Innensenator« Andreas Geisel (SPD) und dessen zuständige Innenverwaltung. »Sie hat als Aufsichtsbehörde sehenden Auges versagt«, meint Koch. »Hier muss Klarheit darüber geschaffen werden, wie es zu solch schweren Fehlern bei der Wahlvorbereitung kommen konnte.«

»Deutlicher konnte das Gericht heute kaum werden: Berlin muss sich auf komplette Neuwahlen einstellen«, erklärt CDU-Generalsekretär Stefan Evers. »Wir sind dafür bereit. Bereit, diesen Senat abzulösen. Rot-Grün-Rot hat unsere Stadt vor der ganzen Welt blamiert. Es ist beschämend, es reicht!«

Doch nach der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap, veröffentlicht am 21. September, würde es aktuell auch bei einer Neuwahl wieder für die gegenwärtige rot-grün-rote Koalition reichen. Die SPD käme demnach auf 17 Prozent, die Grünen würden 22 Prozent erhalten und Die Linke zwölf Prozent. Das allein wären zusammen schon 51 Prozent, doch von den zwölf Prozent Sonstige, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, würde auch noch etwas auf das Regierungslager entfallen. Eine Mehrheit wäre gesichert. Allerdings gäbe es voraussichtlich einen Wechsel an der Spitze des Senats. Die Regierende Bürgermeisterin Giffey (SPD) müsste ihr Amt dann den parlamentarischen Gepflogenheiten entsprechend an ihre Stellvertreterin Bettina Jarrasch (Grüne) abgeben, weil nun deren Partei die Nase vorn hat und nicht mehr die SPD wie noch vor einem Jahr.

CDU-Generalsekretär Evers frohlockt dennoch: »Ich bin sicher, dass die Berliner sehr bald die Chance haben werden, diesem peinlichen Senat die rote Karte zu zeigen. Es geht um unsere Stadt. Und es geht darum, dass die Menschen sich auf eine funktionierende Verwaltung verlassen können. Berlin hat eine bessere Regierung verdient.« Schlimm findet der Oppositionspolitiker, »dass bis heute weder die SPD noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Geisel Konsequenzen gezogen haben«. Evers hält seinen Rücktritt für »unausweichlich«. Trotz aller Warnungen seien die Vorbereitungen für eine mögliche Neuwahl lange verschleppt worden. »Frau Giffey mag jetzt Regierende auf Abruf sein: Zumindest um funktionierende Wahlen muss sie sich aber noch kümmern«, fordert Evers.

Es wäre das erste Mal, dass in der Bundesrepublik eine Landtagswahl in Teilen oder komplett wiederholt werden muss, weil die Ausübung des Wahlrechts nicht uneingeschränkt gewährleistet war. Überhaupt gibt es nur einen vergleichbaren Fall, auch wenn die Gründe damals andere waren: Am 4. Mai 1993 erklärte das Hamburger Verfassungsgericht die Bürgerschaftswahl vom Juni 1991 für ungültig, weil die CDU bei der Aufstellung ihrer Kandidatenlisten für den gesamten Stadtstaat und die Bezirksvertretungen »schwerwiegende Demokratieverstöße« begangen habe. Der Protest gegen die Wahl kam damals aus der CDU selbst, von Leuten, die danach teils rechts von der CDU weitergearbeitet haben. Die Wahl musste im September 1993 komplett wiederholt werden. Das Ergebnis: SPD und CDU verloren viele Stimmen; neben den Grünen waren vor allem die rechtskonservative Statt-Partei sowie die rechtsradikalen Republikaner und die neofaschistische DVU die Profiteure. Die Statt-Partei, teils aus CDU-Abtrünnigen bestehend, wurde von der SPD in eine Koalition geholt und damit aufgewertet. Zwar zerfiel sie bald wieder, aber viele Wähler und Mitglieder sammelten sich später bei der aggressiv-rechtspopulistischen Schill-Partei.

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