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»Beton ist nicht nachhaltig«

Für Menschenrechtsexpertin Sylvia Schenk hat Deutschland vor einer neuen Olympiabewerbung noch viel aufzuholen

Die Nutzung des Olympiastadions für die Leichtathletik-EM im Sommer wurde von vielen als nachhaltig gerühmt. Doch der Begriff wird falsch verwendet, meint Sylvia Schenk.
Die Nutzung des Olympiastadions für die Leichtathletik-EM im Sommer wurde von vielen als nachhaltig gerühmt. Doch der Begriff wird falsch verwendet, meint Sylvia Schenk.

Im Spätsommer schwärmten viele Sportler, Funktionäre und Politiker von den European Championships in München. Seither träumen sie von einer neuen deutschen Olympiabewerbung. Angeblich hätte München mit der Wiederverwertung der alten Olympia-Sportstätten von 1972 große Nachhaltigkeit bewiesen. Sie sprachen diese Woche vor dem Bundestags-Sportausschuss vom Unterschied zwischen Nachhaltigkeit und Erbe, der in Deutschland oft nicht erkannt werde. Was meinen Sie damit genau?

Interview

Sylvia Schenk ist ehemalige Leichtathletin und Juristin. Von 2001 bis 2004 war sie Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), konnte einen transparenteren Kurs im deutschen wie im Weltverband aber nicht durchsetzen. Seit 2006 kämpft die 70-Jährige in verschiedenen Positionen für Transparency International Deutschland gegen Korruption und für die Durchsetzung der Menschenrechte, aktuell leitet sie dort die Arbeitsgruppe Sport.

Nachhaltigkeit umfasst neben Ökonomie, die Ökologie sowie soziale Aspekte einschließlich der Menschenrechte. Beton wie im Olympischen Dorf Münchens ist ökologisch nicht nachhaltig. Elf ermordete Teilnehmer aus Israel waren menschenrechtlich der GAU, also überhaupt nicht nachhaltig oder akzeptabel. Frauen konnten von 22 Sportarten nur an acht teilnehmen und waren total unterrepräsentiert sowie diskriminiert. Ich könnte das fortsetzen. Aber klar ist: München 1972 kann man nicht als »nachhaltig« einstufen. Trotzdem gab es ein positives Erbe mit der Infrastruktur in München wie etwa der U-Bahn, dem Olympiapark, der guten Nachnutzung auch des Dorfes sowie all den positiven Anstößen im Sport. International wird deutlich zwischen Nachhaltigkeit und Erbe unterschieden. Das sollte zumindest den Sportfunktionär*innen bekannt sein und in offiziellen Aussagen des DOSB berücksichtigt werden.

Auf welchem der drei von Ihnen umrissenen Nachhaltigkeitsfelder hat Deutschland denn den meisten Aufholbedarf?

Beim umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeit, also vor allem der sozialen Dimension. Viele sehen Nachhaltigkeit gleichbedeutend mit Umweltschutz. Dies hat sich auch bei vergangenen Olympiabewerbungen gezeigt, da hieß es sinngemäß: »Wir sind nachhaltig, denn wir schützen die Umwelt.« Das ist aber zu kurz gedacht. Die internationale Debatte dazu auch im Sport ist deutlich vorangekommen, das haben viele in Deutschland noch nicht nachvollzogen.

Sie meinten ohnehin, der DOSB müsse sich international völlig anders aufstellen.

Ja, er hat sich über Jahre fast gar nicht um die internationale Sportpolitik gekümmert. Da gibt es einen großen Nachholbedarf.

Sie kritisieren generell eine zu große Binnensicht: In Deutschland würden Großereignisse immer aus dem Winkel betrachtet, was sie uns selbst bringen könnten. Dabei könnte auch die Frage im Mittelpunkt stehen, was wir dem internationalen Sport zu bieten haben. Womit könnte Deutschland denn zu einem positiven Wandel beitragen?

Die Binnensicht nehmen vor allem die Sportorganisationen ein. Der DOSB und seine Mitgliedsorganisationen fragen meist, was es ihnen und dem Sport bringt, und weniger, was es ganz Deutschland und der Olympischen Bewegung bringt, wenn Spiele in unserem Land stattfinden. Wenn man internationale Sportveranstaltungen generell für einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung und als eine mögliche Kraft zur positiven Veränderung sieht – und das ist die Meinung von großen Menschenrechtsorganisationen – dann muss auch der deutsche Sport dazu beitragen, diese positiven Möglichkeiten in politisch schwierigen Zeiten weiterzuentwickeln. Da gibt es kein Patentrezept. Sich aber gar nicht an der Debatte zu beteiligen, stattdessen nur nach dem eigenen Nutzen zu fragen, wird der Rolle des deutschen Sports und seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.

Das IOC hat, wie am Beispiel der Sommerspiele 2032 in Brisbane erkennbar wurde, ein neues Bewerbungsverfahren eingeführt. Plötzlich waren die Spiele vergeben, noch bevor der deutsche Verband entschieden hatte, ob er sich mit der Rhein-Ruhr-Region überhaupt bewerben will. Was wurde hier verpasst?

Der DOSB hat die Debatte und die schrittweise Übernahme der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte durch das IOC seit 2017 nicht wirklich mitbekommen. Erst jetzt hat er begonnen, sich mit den Leitprinzipien zu beschäftigen und diese auch zur Grundlage seiner eigenen Arbeit zu machen. Was alles schon in Australien passiert war, insbesondere mit dem umfassenden Konzept für die Commonwealth Games 2018 in Brisbane, war hier weitgehend unbekannt. Deshalb war der DOSB bei der Vergabe der Olympischen und Paralympischen Spiele nach Brisbane auch so überrascht gewesen.

Erneut will der deutsche Verband vor einer weiteren Bewerbung – frühestens für Winterspiele 2034 oder Sommerspiele 2036 – erst einmal mit den Bürgern über Konzepte debattieren. Sie hingegen fordern, dass er gleichzeitig auch mit dem IOC sprechen sollte. Besteht dabei nicht die Gefahr der Bürgerkritik, dass das Ergebnis der Diskussionen schon feststeht?

Die »Bewerbung« im herkömmlichen Sinne mit Absichtserklärung, Abgabe der Unterlagen und dann der Prüfung und Vergabe durch das IOC gibt es nicht mehr. Stattdessen ist das IOC schon jetzt mit möglichen Bewerbern für 2036 in ersten Gesprächen. Dabei werden gemeinsam Möglichkeiten ausgelotet, Gestaltungsalternativen diskutiert. Es ist ein Dialogprozess. Wann und wie dann welche Art von Beteiligung der Bürger*innen – deutschlandweit oder nur in einem Bundesland, einer Stadt, einer Region – sinnvoll ist, müsste erst noch diskutiert werden. Die Planungen werden mit dem IOC zusammen entwickelt, das verlangt national ein ganz anderes Vorgehen als zuvor.

Das IOC will sich offenbar nicht mehr dem Vorwurf aussetzen, nur Forderungen zu stellen. Seit einigen Jahren werden mögliche Bewerber schon früh bei den Planungen und dem Erfüllen von Vergabekriterien wie jenen UN-Leitprinzipien unterstützt. Also auch beim Thema Menschenrechte. Wird da am Ende gar nicht mehr nach dem Ist-Zustand entschieden, sondern nur noch nach den besten Konzepten, wie Organisatoren das Thema anpacken wollen?

Doch, auch der Ist-Zustand spielt eine Rolle. Nur aus der konkreten Situation in einem Land heraus lassen sich die menschenrechtlichen Risiken für eine Sportgroßveranstaltung beurteilen und Präventionsmaßnahmen, also ein Menschenrechtskonzept entwickeln. Der Fußball-Weltverband Fifa verlangt schon bei der Bewerbung für eine WM ein unabhängiges Menschenrechts-Assessment für das Bewerberland, holt selber noch eine weitere unabhängige Expertise ein und fordert dann darauf basierend ein detailliertes Menschenrechtskonzept zur Umsetzung.

Kontrollieren IOC und Fifa dann auch die Einhaltung dieser Konzepte?

Die Kontrolle setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. IOC und Fifa können nicht selbst überall vor Ort schauen, was passiert. Sie müssen deshalb sicherstellen, dass sich von Beginn an national, regional sowie auch international Stakeholder in großer Breite beteiligen, z.B. Gewerkschaften für Arbeitsbedingungen, Kinderschutzorganisationen für Kinderrechte. Die Zivilgesellschaft ist an vielen Themen dicht dran, kennt die Probleme vor Ort und kann bei Abhilfemaßnahmen mitwirken. IOC und Fifa müssen dabei für die Koordinierung, das Aufgreifen von Hinweisen und das Abstellen von festgestellten Missständen sorgen. Aber wichtige Informationen kommen von vielen Expert*innen und Betroffenenorganisationen vor Ort.

Vor der WM in Katar werden nun zudem unabhängige Beschwerdestellen gefordert.

Ja, es muss effektive Beschwerdemechanismen geben, wo Einzelpersonen – egal ob selbst betroffen oder nur Beobachter*in von möglichen Rechtsverletzungen – geschützt auf Verstöße hinweisen können. Die Anfragen müssen dann professionell bearbeitet und dann Abhilfe geschaffen und gegebenenfalls entschädigt werden. Die übergreifende Kontrolle erfolgt dann auf Basis der öffentlichen Berichterstattung, die zu einem solchen Konzept dazugehört. Das war jetzt in Kurzfassung die Schilderung eines hochkomplexen Prozesses!

Klingt ja alles ganz schön, aber speziell 2022 werden IOC (wegen der Winterspiele in Peking) und Fifa (Männer-WM in Katar) mit Recht noch für frühere Vergaben an Gastgeber mit schlechter Menschenrechtsbilanz kritisiert. Inwieweit werden die Ausrichter der kommenden Jahre bereits andere Spiele und Weltmeisterschaften bieten?

Es kommt nicht nur auf die eigentliche Veranstaltung an. Menschenrechtskonzepte umfassen den gesamten Lebenszyklus einer Veranstaltung, von der Ausschreibung über das Bewerbungsverfahren, die Vorbereitung, die Veranstaltung selbst bis zur Abwicklung und den Endbericht. Und da hat sich viel geändert. Die erste Veranstaltung, die von Beginn an so in Gang gesetzt wurde, wird die Fußball-WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko sein. Alle Veranstaltungen bis dahin sind noch »Zwischenlösungen«, weil erst nach der Vergabe mitten im Vorbereitungsprozess die UN-Leitprinzipien erstmals angewendet wurden. Im Übrigen ist das ein weltweiter Lernprozess, niemand hat fertige Lösungen für alle sich stellenden Fragen.

Sie sprechen sich für eine weltweite Verteilung von Großereignissen aus, dann dürfe Deutschland aber nicht auf andere Gastgeber draufhauen, und wir würden da gerade kein gutes Beispiel abgeben? Soll das heißen, die Kritik an Peking und Katar ist überzogen?

So habe ich das nicht formuliert. Wer aber, wie ein Abgeordneter im Sportausschuss, eine Verteilung auf alle Kontinente fordert, muss sehen, dass in der überwiegenden Zahl der Länder die Menschenrechtssituation weitaus schlechter ist als bei uns. Sportgroßveranstaltungen können Veränderungen anstoßen, wenn dies systematisch angegangen wird. Dann muss man aber Fortschritte auch anerkennen, selbst wenn nicht gleich alles unseren Vorstellungen entspricht. Im Fall Katar fehlt es in manchen Diskussionen an einem differenzierten Blick, das ist kontraproduktiv. Damit stärken wir die Reformkräfte im Land nicht, sondern fallen ihnen in den Rücken. China ist aufgrund der Größe des Landes, der Regierungsform und der zuletzt noch gesteigerten Repressionen nicht mit Katar zu vergleichen. Mit einem einfachen Menschenrechtskonzept ist dort eher wenig zu erreichen. Die Frage ist, ob deshalb dort keine großen Sportveranstaltungen mehr stattfinden sollen. Ist das sinnvoll? Oder riskiert die Olympische Bewegung damit sogar die Spaltung? Wir sollten den Einfluss Chinas nicht unterschätzen. Ich habe nicht die eine Lösung, aber diese Fragen müssen vertieft bearbeitet werden, wenn die Olympische Bewegung, das IOC und damit auch der DOSB zukunftsfähig werden wollen.

Auch in Deutschland läuft bei Weitem nicht alles rund. Sie kritisierten jüngst die Vorbereitungen auf die Fußball-EM 2024 in Bezug auf den Umgang mit der Menschenrechtsfrage. Was war da schiefgelaufen?

Es gab im Zusammenspiel der verschiedenen Beteiligten – Uefa, DFB, Bund, Länder, Städte – Probleme, sich auf ein zentral gestaltetes Vorgehen in Sachen Menschenrechte zu verständigen. Da hat es die letzten zwei Wochen aber erhebliche Fortschritte gegeben. Ich bin inzwischen zuversichtlich, dass wir das in einem Endspurt hinbekommen.

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