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- Theaterstück "Verrückt nach Trost"
Telegramme aus der Tiefe
Suchbewegung ins Leere: »Verrückt nach Trost« von Thorsten Lensing an den Berliner Sophiensälen
Alles Leben kommt aus dem Meer. Ist das ein Trost? Wer kann das wissen. Jedenfalls scheint der Mensch, das Animal triste, nicht wählerisch bei der Wahl seiner Trostmittel. Wenn alles Leben nur Vorspiel zum Tod ist, dem kein Nachspiel folgt, dann sind wir hier vom ersten Augenblick an mitten im Endspiel.
Erste Szene: Zwei Kinder am Meer, die ihre toten Eltern nachspielen, als könnten diese so wieder lebendig werden. Werden sie auch, für Augenblicke, in denen die Erinnerung das Spiel bestimmt. Dann schleicht der Zweifel heran, der mit der Wiederholung wächst und schließlich das Spiel beendet.
Autor und Regisseur Thorsten Lensing macht es niemandem leicht: sich selbst nicht, den Schauspielern nicht und auch den Zuschauern nicht. Er ist bereits über 50, ein Theaterkultregisseur, dabei war er noch nie einen Tag in seinem Leben an einem Theater angestellt. Denn Theater sind hierzulande behäbige Institutionen, GmbHs oftmals mit städtischer und Landesbeteiligung oder sogar Staatstheater. Kein Ort für freie Geister? So jedenfalls sieht es Lensing, der insgesamt 15 Theaterprojekte entwickelte, deren Intensität (teils auch Penetranz) sich ins Gedächtnis einbrannte.
Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Lensing: »Onkel Wanja« von 2008, an gleicher Stelle – bereits mit Devid Striesow als Arzt Astrow und Ursina Lardi als Jelena. Denn Lensing wechselt zwar ohne Sentimentalität die Spielorte seiner Stücke, aber nicht die Schauspieler. Ihnen ist er auf eine unzeitgemäße Weise treu.
Hier also wieder Striesow und Lardi, als Kinder vom Meer, die sich über den Tod ihrer Eltern zu trösten versuchen. Wie diese gestorben sind, erfahren wir nicht, wie Lensings Theater überhaupt keines der linear erzählten Geschichten ist. Nein, es sind kreisende Phantasmen der Ausdrucksnot, die daraus resultiert, trotz der Existenz des Todes weiterleben zu müssen, aber nicht zu wissen, wie. Archetypen der Angst. Wer sich ins Surreale zu retten versucht, begegnet sich selbst ganz ungeschützt-monströs ohne Maske der Konvention. Ein Schock.
In »Verrückt nach Trost« geht Lensing noch einen Schritt weiter: Er schreibt zum ersten Mal das Stück selbst, das er dann inszeniert. Ganz offenbar hat Lensing als Theaterautor etwas ähnlich Skurril-Kauziges wie Ernst Barlach, der nur ein einziges Mal ein Theater betrat, um ein Stück von sich anzuschauen. Nie wieder!, schwor er sich danach – und hielt das Versprechen.
Im Mama-Papa-Spiel proben die beiden Kinder Identitäten, die aber alle nicht passen und wieder abgelegt werden wie zu enge Jacken. Das Meer im Rücken ist hier eine große Metallröhre, quer über die ganze Bühnenbreite liegend. Das ist die bodenlose Traummaschine, die alle Bewegungen rundet. Man kann hinabtauchen, so lange, bis der Sauerstoffmangel grellbunte Welten imaginiert. Ein Rausch, der tödlich endet, wenn man sich ihm eine Winzigkeit zu lange hingibt.
Ursina Lardi und Devid Striesow als Geschwister scheinen geradewegs von Stephen Kings »Friedhof der Kuscheltiere« zu kommen. Sie agieren erschreckend perfekt im Rollentausch mit ihren Eltern, allzu eifrig, geradezu fröhlich im Nachspielen von etwas, das es gar nicht mehr gibt und nie wieder geben wird. Das hat etwas Unheimliches, denn irgendwo scheint da Magie am Werk, vielleicht sogar ein Fluch.
»The Others« heißt ein Film von Alejandro Amenábar, den man gewöhnlich dem Genre des Horrorfilms zuordnet. Die Toten begeben sich unter die Lebenden – aber das erscheint ganz und gar folgerichtig. So auch bei Lensing. Die Kinder geben ihren toten Eltern Zuflucht. Was anderes könnten sie tun, um sie nicht ganz zu verlieren?
Das ist der existenziell-philosophische Punkt, um den der gut dreieinhalbstündige Abend kreist, an dem – bis auf eine ausufernde Szene nach der Pause zur Gefühllosigkeit, bei der die Didaktik dominiert – nichts überflüssig scheint. Der ersten Szene der Geschwister am Meer folgen etwa ein Dutzend weitere, aber im Grunde endet diese erste Szene bis zum Schluss nicht. Eine Suchbewegung, die ins Leere weist, in Melancholie abtaucht.
Es gibt keine Rettung, lautet der Befund. Die einstigen Kinder werden Greise und hören doch nie auf, jene Kinder zu bleiben, die ihre toten Eltern suchen. Das bekommt in Lensings Regie etwas Aberwitziges. Etwas, das auf Expedition geht.
Mit dem Auftritt von Sebastian Blomberg als Taucher kommt dieses überbordende Element ins Spiel. Da war einer zu lange in der Tiefe und kann sich nun an der Oberfläche nicht mehr orientieren. In voller Montur steht er mitten auf der Bühne und doch ganz am Rande einer Existenz. Sein Atem rasselt und keiner – erst recht nicht der verspätete Taucher selbst – weiß, ob dieser Atemzug nicht tatsächlich sein letzter gewesen sein wird. Er redet seltsame Dinge, wie Telegramme aus unbekannter Tiefe: »Ich bin zu müde, um vernünftig zu sein.«
Solche Perspektivverschiebung eröffnet neue Horizonte, und sei es bloß miniaturisierte. Wolken erscheinen darin »wie Gottes Gehirn«, und Fische im Aquarium sind nichts anderes als »aus dem Zusammenhang gerissene Zitate«. Lensing selbst gibt sich hier den finalen Pass in den Strafraum der ultimativen Aphorismen, natürlich leicht surreal abgehoben. Da kann dann jeder der hier hoch motivierten Schauspieler leicht den Ball ins Tor köpfen, was bedeutet, hinter einen nicht abschließbaren Satz entschlossen einen Punkt zu setzen.
Es ist vielleicht nicht jedermanns Sache, von einem absurden Monolog zum nächsten hinüberzugleiten, als leide man als Zuschauer selbst unter der Taucherkrankheit. Aber es ist nicht nur konsequent, auch großartig, wie sich hier alle Beteiligten dem ungewissen Sprachstrom der Worte übergeben. Auf unvorhersehbare Weise wird dann doch einmal ein Sinn angeschwemmt. Treibgut, das es zu hüten gilt.
Der Punkt, aus dem alles Spätere folgt: der drohende Verlust des Schmerzes durch die vergehende Zeit. Was also tun, um sich ins Leben zurückzuträumen?
Der vierte Schauspieler auf der Bühne, André Jung, hat auch bereits eine lange Lensing-Bühnengeschichte hinter sich: als Tier. Hier ist er ein Orang-Utan. Ganz zum Schluss verwandelt dieser sich in einen sensitiven Pflegeroboter und weint all jene Tränen, die die nun 88-jährige sterbende Charlotte (das Mädchen vom Meer) einst verschluckte, um bis hierher ans Ende zu kommen. Jung also als Orang-Utan provoziert Kommentare: »Orang-Utans sind Menschen, die sich weigern zu sprechen, weil sie Angst haben, sonst arbeiten zu müssen.«
Was für seltsame, in ihrer Verlorenheit schöne Bilder hier auf die karge Bühne von Gordian Blumenthal und Ramun Capaul gezaubert werden, so wenn Ursina Lardi zum Oktopus wird, der erst seine neun Gehirne abstimmen lassen muss, bevor er eine Entscheidung trifft. Da scheint dann ganz der Körper zur stumm in alle Zeiten zugleich weisenden Utopie geworden. Obwohl die Perversion der Schöpfung fraglos ist, wenn ausgerechnet die ewig Zellteilung betreibenden Süßwasserpolypen die Möglichkeit von Unsterblichkeit beweisen.
Diese Art frei zwischen allen Realitäts-, Zeit- und Sinnebenen oszillierenden Spiels passt tatsächlich nicht in die Begründungszwänge eines Stadt- oder Staatstheaters. Es atmet Freiheit, die aber nicht aus Beliebigkeit oder Langeweile gemacht ist, sondern aus jener Notwendigkeit, wie sie aus dem Verlust erwächst: »Sind Papa und Mama eigentlich ganz tot?« Präziser als in »Verrückt nach Trost« kann man eine so schicksalsmächtige Frage nicht beantworten – man würde sonst buchstäblich verrückt werden, ganz ohne Trost.
Nächste Vorstellungen: 7., 8. und 9.10.
www.sophiensaele.com
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