- Politik
- »NSU 2.0«-Prozess
Bekannte sollen es gewesen sein
Im »NSU 2.0«-Prozess präsentiert der Angeklagte eine neue Version seiner Unschuld
Rund anderthalb Stunden sind vergangen am Donnerstagmorgen im Frankfurter Landgericht, da meldet sich der Angeklagte zu Wort, wieder einmal. Eigentlich soll im Prozess um die Drohschreibenserie des »NSU 2.0« an diesem 27. Verhandlungstag die Beweisaufnahme geschlossen und mit den Plädoyers begonnen werden, doch Alexander M. hat noch etwas mitzuteilen. »Das ist mein letzter Antrag jetzt«, verkündet der 54-Jährige. »Dann bin ich fertig für diese Hauptverhandlung.«
Was dann kommt, ist allerdings kein Antrag, auch wenn der arbeitslose Berliner Computerexperte seine Ausführungen wie üblich mit Paragrafen und juristischen Termini spickt, sondern ein neuer Versuch, seine Unschuld zu beteuern. Mehr als hundert Mails und Faxe mit wüsten Morddrohungen, mit rüdesten rassistischen und sexistischen Beleidigungen, mit Hinrichtungsfantasien und volksverhetzenden Tiraden soll Alexander M. bis zu seiner Festnahme im Mai 2021 verschickt haben – im Namen eines »NSU 2.0«, unterschrieben gerne mit »Heil Hitler« und adressiert vor allem an prominente Frauen, die sich gegen rechts engagieren.
Was diese Drohschreiben so gefährlich erscheinen ließ: Häufig enthielten sie private Daten der Angeschriebenen, wie Wohnadressen oder Namen naher Angehöriger. Auf dem Computer des Angeklagten fand die Polizei Fragmente einzelner Schreiben – eines von vielen sehr gewichtigen Indizien, die auf Alexander M. als den Verfasser hindeuten. Doch der Mann will es trotzdem nicht gewesen sein. Hatte er bislang von einer geschlossenen Chatgruppe im Darknet geraunt, die, von ihm lediglich teilnehmend beobachtet, für den »NSU 2.0« verantwortlich gewesen sei, präsentierte er nun eine ganz andere Variante: Entgegen der Ermittlungsergebnisse habe er keineswegs sozial isoliert gelebt, sondern sehr viele Freunde gehabt, Bekannte aus seiner Zeit im Gefängnis auch. Die seien immer wieder bei ihm im Berliner Wedding zu Besuch gewesen – und hätten freien Zugang zu seinem Computer gehabt. Wer das gewesen sein soll, will Alexander M. freilich nicht verraten: »Namen nenne ich keine.«
Was er dagegen gerne verrät, ist das angebliche Ziel der Drohungen und Schmähungen. »Das Projekt ›NSU 2.0‹ hatte nur die Absicht, Negativschlagzeilen zu produzieren«, behauptet er. »Es ging nie darum, so viel kann ich sicher sagen, jemandem Schaden zuzufügen.« Woher er das weiß, wenn er doch gänzlich unbeteiligt war, erklärt er wiederum nicht. Und es fragt auch niemand nach.
Dass der Beginn der Plädoyers noch einmal verschoben werden muss, liegt aber nicht an der neuen Volte des Angeklagten, sondern an der Hartnäckigkeit von Antonia von der Behrens. Die Nebenklageanwältin möchte immer den Nachweis führen, dass das erste Drohfax vom August 2018, in dem der Anwältin Seda Başay-Yıldız die barbarische Tötung ihrer Tochter angekündigt wurde, aus dem 1. Polizeirevier auf der Frankfurter Zeil kam – dass die Drohserie des »NSU 2.0« also nicht mit Alexander M. begann, sondern mit dem Polizeibeamten Johannes S. Gegen ihn liegen reichlich Verdachtsmomente vor – von rechten Chats über ein mutmaßlich manipuliertes Alibi bis zur Möglichkeit, die privaten Daten von Başay-Yıldız aus dem Polizeicomputer abzurufen. Erneut stellte von der Behrens deshalb Beweisanträge. Unter anderem geht es um die Einschätzung eines Ermittlers, dass das erste Fax »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« von einem mobilen Endgerät verschickt wurde, alle weiteren aber von einem PC. Alexander M. soll damals jedoch weder Handy noch Tablet besessen haben.
Dass das Gericht den Anträgen nachkommen wird, erscheint eher unwahrscheinlich: Bereits am vorangegangenen Verhandlungstag hatte es alle auf eine Beteiligung von S. zielenden Beweisanträge abgewiesen. Die Begründung: Die Rolle des Beamten sei nicht in diesem Prozess zu bewerten, sondern in dem gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren. Ermittelt wird gegen Johannes S. aber nur wegen Geheimnisverrats, weil er die Daten von Başay-Yıldız abgerufen und weitergegeben haben könnte, und wegen seiner rechten Postings in einer Chatgruppe. Was den Versand des Drohfaxes angeht, erkennt die Staatsanwaltschaft bislang keinen hinreichenden Tatverdacht gegen den Beamten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.