Im Windschatten der SDGs

Johannes Greß über den ideologischen Kern der UN-Nachhaltigkeitsziele

  • Johannes Greß
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Ende September 2015 von der UN verabschiedeten »Ziele für Nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) lesen sich wie ein Brief an den Weihnachtsmann. 17 Ziele sind darin definiert, bei mindestens 16 von ihnen lässt sich nur schwer widersprechen: Gemeinsam wollen die 193 unterzeichnenden Staaten unter anderem Armut überwinden, für Geschlechtergerechtigkeit sorgen und den Klimawandel bekämpfen, bis spätestens 2030. Zeit für eine Halbzeitbilanz von links.

Inmitten der 17 SDGs verbirgt sich das Development Goal Nummer acht: dauerhaftes Wirtschaftswachstum. Das ist insofern interessant, als die 17 SDGs keine Hierarchie beinhalten, gerechte und hochwertige Bildung (Ziel 4) ist genauso wichtig wie der Schutz der Ökosysteme der Erde (Ziel 15) oder eben Wachstum. Anders formuliert: Zur »Entwicklung« der Weltgemeinschaft zählt neben sozialen und ökologischen Fortschritten auch ein möglichst aufgeblähtes Bruttoinlandsprodukt (BIP). Nur: Die semantische Gleichstellung von Wachstum und Entwicklung verschleiert, dass dabei noch nichts über dessen Verteilung und Qualität gesagt ist.

Johannes Greß
Johannes Greß arbeitet als freier Journalist in Wien. Unlängst erschien von ihm das Buch »Konsumideologie. Kapitalismus und Opposition in Zeiten der Klimakrise« im Schmetterling Verlag.

Einerseits impliziert Ziel 8, Wachstum würde allen gleichermaßen zugutekommen. De facto aber profitieren vom globalen Wachstum die privilegierten Staaten des Globalen Nordens – und hier besonders reiche Kapitalfraktionen. Anderseits, und damit in Verbindung stehend, werden im SDG-Jargon die nicht unerheblichen Kollateralschäden negiert, die mit Wirtschaftswachstum einhergehen. Soziale Ausbeutung, ökologische Zerstörung, rassistische Diskriminierung, Zwangsarbeit oder die Unterdrückung von Frauen waren und sind intrinsische Bestandteile kapitalistischen Wachstums. Hier wiederum sind der Globale Süden und einkommensarme Schichten deutlich mehr betroffen als jene, die vom Anstieg des BIPs profitieren. Ein 2020 im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichter Artikel zeigt genau das: Dort, wo – im Sinne der SGDs – ökonomische »Fortschritte« erzielt wurden, ging das zulasten von Klima, Biodiversität und Umweltschutz.

Es stellt sich die Frage, die naiv klingt, aber so naiv nicht ist: Warum ist das Ziel Nummer acht dann Teil der SDGs? Die Frage berührt den ideologischen Kern der UN-Nachhaltigkeitsziele. Zwar weisen die 17 Entwicklungsziele formal keine Hierarchie auf, entpuppen sich aber bei genauerem Hinsehen als eine Art Wachstumsstrategie durch die Hintertür. Eine Untersuchung der Universität für Bodenkultur Wien zeigt, dass die 169 Unterziele und deren Gewichtung Wirtschaftswachstum gegenüber allen anderen Zielen priorisieren.

Im Wachstumsimperativ der SDGs spiegelt sich ein grundlegendes Kriterium von Ideologie wider: Ein privates Interesse (Macht und Profit herrschender Kapitalfraktionen) wird als universelles Interesse inszeniert. Unter dem Deckmantel des Weltfriedens werden in den SDGs ökonomische und politische Herrschaftsinteressen reproduziert.

Die wenigen Fortschritte, die im Sinne der SDGs gemacht wurden, sind spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie wieder zunichte. Wer glaubt, mit den »Zielen für Nachhaltige Entwicklung« hätte sich alle Welt zu globaler Solidarität bekannt, soll einen Blick auf die Impfstoffverteilung zwischen Ländern werfen. Während sich Länder wie Deutschland mittels Exklusivverträgen den Großteil der Vakzine sicherte, liegt in vielen Ländern des Globalen Südens die Impfquote mangels Impfstoff, Geld und Patenten nach wie vor im einstelligen Prozentbereich – mit verheerenden sozialen, ökonomischen und medizinischen, sprich tödlichen Folgen.

Das linke Potential der SDGs liegt im Windschatten ebendieser. In einem Evaluierungsbericht aus dem Jahr 2020 heißt es: Die Bilanz sei bestenfalls durchwachsen, aber immerhin: »Überall auf der Welt formieren sich soziale Bewegungen wie Fridays for Future, die Kernthemen der Agenda 2030 adressieren«. Aus emanzipatorischer Sicht können Staaten, transnationale Organisationen oder die UN nicht die einzigen Adressaten linker Forderungen sein. Es muss darum gehen, Synergien zu bilden, die sich abseits staatlicher Institutionen bewegen: zwischen Umweltbewegungen, feministischen und antirassistischen Kämpfen, zwischen Gewerkschaften, der Friedensbewegung und so weiter. Mit den SDGs liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der von 193 Staaten unterzeichnet wurde – ein Vorschlag, dessen (Nicht-)Einhaltung immer wieder kritisch adressiert werden kann und muss.

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