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Ausreichend Schutz bei Behinderung?
Bundestag berät Gesetzesentwurf zur Triage: Regeln für den Extremfall knapper medizinischer Mittel gesucht
An diesem Donnerstag wird im Bundestag über den Entwurf eines Gesetzes beraten, das die Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Dezember 2021 umsetzen soll. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie wurde der Gesetzgeber dazu verpflichtet, unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage-Situation zu treffen. Damit gemeint sind Verfahren, mit denen im Falle fehlender Ressourcen medizinische Hilfeleistungen nach bestimmten Prioritäten zum Einsatz kommen. Der Begriff stammt aus der Militärmedizin.
Anne Gersdorff ist einer von neun Menschen mit zum Teil schweren Behinderungen, die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hatten. Sie befürchten, bei Entscheidungen über die Zuteilung möglicherweise nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden.
Gersdorff, Referentin von Jobinklusive, einem Projekt, das sich dafür engagiert, mehr Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen, war immer stolz darauf, ein aktives und weitgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können. Doch angesichts der Debatte um die Triage fragt sich die Rollstuhlfahrerin, die rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen ist, ob ihr Leben weniger wert sein soll als das von Menschen ohne Behinderungen. »Wie wären denn meine Überlebenschancen nach den Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften?«, will sie wissen. Dort wird vorgeschlagen, in einer solchen Situation nach der Überlebenswahrscheinlichkeit zu entscheiden. »Aufgrund meiner schweren Behinderung würden viele denken, ich hätte eh keine Chance.«
Das Urteil des BVerfG vom Dezember 2021 war deshalb nach Meinung von Gersdorff ein großer Erfolg. Darin wird klargestellt, dass sich aus dem Grundgesetz für den Staat eine Schutzpflicht ergibt, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung zu schützen. Das BVerfG verwies auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Ärzte und Ärztinnen bräuchten rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollten und wen nicht.
Vertreten wurden die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer vom Anwalt Oliver Tolmein. Er zieht einen Vergleich zum historisch geprägten Ehrenkodex der Marine: »Frauen und Kinder zuerst. Der Kapitän verlässt als Letzter das Schiff.« Übertragen auf die aktuelle Situation sichere diese ethische Grundregel zwar nicht, so Tolmein, dass die meisten Menschen in einer Gefahrensituation gerettet würden, aber sie sei Ausdruck einer Haltung, die sich angesichts der Katastrophe nicht in erster Linie an Effizienz, sondern an Solidarität und Sorge um die am meisten Gefährdeten ausrichte.
Gersdorff erhofft sich für die heutige Debatte im Bundestag ein klares Statement, dass Menschen mit Behinderungen bei der Umsetzung des Beschlusses des BVerfG nicht diskriminiert werden. Denn auch sie haben das gleiche Recht auf eine überlebenswichtige, intensivmedizinische Versorgung.
Doch viele Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen bezweifeln angesichts des Personalmangels und fehlender medizinisch-technischer Ressourcen, ob sie sich im Notfall tatsächlich darauf verlassen können, dass bei der Krankenhausbehandlung keine Selektion vorgenommen wird, dass ausgeschlossen werden kann, dass eine Behinderung pauschal mit schlechteren Genesungsaussichten und Überlebenschancen verbunden wird.
Sie kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass man sie bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs nur unzureichend beteiligt habe und ihre Expertise hinsichtlich Behinderung, Diskriminierung und Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt worden sei.
Viele plädieren angesichts des gesellschaftlichen Klimas und der Situation im Gesundheitssystem für die sogenannte Randomisierung: Das Zufallsprinzip soll entscheiden, wer als Erster die nötige intensivmedizinische Behandlung bekommt. »Die Randomisierung erscheint mir angesichts einer medizinischen Katastrophe als die am wenigsten diskriminierende Methode, die niemanden in ein vorgegebenes Werteschema presst, niemandem aufzwingt, Prognose- und Selektionsentscheidungen zu treffen und die dennoch die Ressourcen an die verteilt, die Anspruch darauf haben, weil bei ihnen eine Indikation für die Behandlung vorliegt, weil die Behandlung Erfolg haben kann – unabhängig von Behinderung und Vorerkrankungen«, so Rechtsanwalt Tolmein.
Dennoch bleibt die menschenrechtlich-ethische Frage, wie human wir als Gesellschaft mit denjenigen umgehen wollen, die besonderen Schutz brauchen. Wäre es nicht die Pflicht des Staates, das Gesundheitssystem im Sinne der Daseinsvorsorge so auszugestalten, dass wir gar nicht erst in eine Triage-Situation kommen? Es wird sich zeigen, ob die Politik versucht, sich weiter aus der Verantwortung zu schleichen, oder ob sie bereit ist, einem weiteren gesellschaftlichen Scheitern etwas entgegenzusetzen.
Die Autorin ist Journalistin und seit 2016 Inklusionsbeauftragte der Partei Die Linke.
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