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Wir müssen aufklären und gedenken

Historiker Jens-Christian Wagner zum Gedenkstättenkonzept auf dem Gelände der Ex-Colonia-Dignidad

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 5 Min.

Warum und mit welchen Erwartungen begleiten Sie Bundesratspräsident Bodo Ramelow bei seiner Reise nach Chile?

Ich wurde von der Thüringer Staatskanzlei und von Herrn Ramelow gebeten, ihn als eine Art externes Mitglied der politischen Delegation zu begleiten. Meine Erwartung ist, dass durch diesen Besuch hoffentlich der Prozess der Einrichtung einer Gedenk- und Bildungsstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad gefördert wird.

2017 hat der Bundestag gefordert, die Bundesregierung solle zusammen mit der chilenischen Regierung die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes zur Colonia Dignidad auf den Weg bringen. Sie sind Teil eines Teams von Expert*innen, das im Auftrag der deutschen und der chilenischen Regierung ein Konzept dafür entwickelt hat. Wie steht es darum?

Zu dieser Gruppe gehören von chilenischer Seite Professor Elizabeth Lira, Leiterin der psychologischen Fakultät an der Universidad Alberto Hurtado, und Diego Matte, Rechtsanwalt und Leiter der Kulturabteilung der Universidad de Chile, von der deutschen Seite die Leiterin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dr. Elke Gryglewski, und ich. Wir haben das Konzept für eine Gedenk- und Bildungsstätte gemeinsam entwickelt und vor etwa anderthalb Jahren den deutschen und den chilenischen Behörden vorgestellt. Beide haben es grundsätzlich positiv aufgenommen. Besonders wichtig war uns, es auch den Opferverbänden vorzustellen. Das haben wir im Dezember 2021 unter anderem vor Ort in der Villa Baviera getan, verbunden mit einer gemeinsamen Gedenkzeremonie, das war ein sehr bewegender Moment. Bei den Opferverbänden ist das Konzept weitgehend auf Zustimmung gestoßen, wenngleich es bei einigen Bewohner*innen der Ex-Colonia-Dignidad noch Vorbehalte gibt.

Im Kontext der Ex-Colonia-Dignidad wurden verschiedene Personengruppen zu Opfern. Dazu zählen deutsche Siedlungsbewohner*innen, chilenische Opfer von sexualisierter Gewalt, Zwangsadoption, Vertreibung und Diktaturopfer, also Folteropfer und Angehörige von Verschwundenen. Wie sieht ihr Konzept aus?

Eine Gedenk- und Bildungsstätte in der Ex-Colonia-Dignidad soll drei Funktionen erfüllen: Erstens eine kommemorative Funktion, das heißt, es soll an die verschiedenen Opfergruppen erinnert werden. Zweitens eine dokumentierende Funktion. Das heißt, dass die Beweismittel der dort begangenen Verbrechen in Ausstellungen dokumentiert, erhalten und erklärt werden müssen. Wir sehen ein Konzept von dezentralen Ausstellungen vor, in denen an die unterschiedlichen Opfergruppen an jeweils relevanten historischen Orten erinnert wird. Drittens geht es um die Bildungsfunktion, die von den anderen Funktionen nicht getrennt werden kann.

Was bedeutet das für die Zukunft der jetzigen, rund 100 Bewohner*innen in der Siedlung? Können diese Menschen dort wohnen bleiben?

Unser Konzept sieht vor, dass der Kern der historischen Colonia Dignidad freigeräumt wird, um ihn als Bildungsstätte und als Gedenkstätte zu nutzen und dass im Umfeld ein neues Dorf entsteht. Dazu könnten einige der vorhandenen Gebäude weiterhin genutzt werden, es müssten aber auch neue Gebäude entstehen. Vor allem soll ermöglicht werden, dass Chileninnen und Chilenen aus der Umgebung sich dort ebenfalls ansiedeln. So soll die Villa Baviera aus der abgeschlossenen Enklave, die sie zurzeit leider immer noch ist, im Laufe der Zeit zu einem mehr oder weniger normalen chilenischen Dorf werden.

Woran hängt die Umsetzung des Konzepts konkret? Was braucht es, damit eine Gedenk- und Bildungseinrichtung aufgebaut werden kann?

Zuerst muss eine Trägerin für diese gemeinsame deutsch-chilenische Gedenk- und Bildungsstätte gefunden werden, die aus deutschen und chilenischen Regierungsgeldern finanziert werden wird. Weiterhin müssen Eigentums- und Denkmalschutzfragen geklärt und bauhistorische Untersuchungen vorgenommen werden. Außerdem muss ein konkretes Bildungskonzept für die Ausstellungen erarbeitet werden. Und dann muss das Ganze umgesetzt werden. Das macht man nicht von heute auf morgen. Gegen Jahresende planen wir eine Seminar- und Workshopreihe mit den Betroffenen, und natürlich wäre es schön, wenn wir dann nicht nur über theoretische Konzepte reden würden, sondern tatsächlich ein Signal erfolgt wäre von den beiden Regierungen, dass diese Konzepte dann auch umgesetzt werden können.

Welche Signale bekommen Sie von der deutschen Ampelkoalition mit dem Grünen-geführten Auswärtigen Amt und von der linken Regierung in Chile unter Gabriel Boric?

Die Grundvoraussetzungen, was die chilenische Seite anbelangt, sind jetzt deutlich besser als unter der vorherigen Regierung, in der wir es auch mit Ministern zu tun hatten, die der ehemaligen Foltersekte Colonia Dignidad nahegestanden haben. Jetzt hat Chile eine Regierung, die die Auseinandersetzung mit den während der Pinochet-Diktatur begangenen Verbrechen explizit fordert. Allerdings sind die Signale sowohl aus der deutschen als auch aus der chilenischen Regierung im Augenblick eher schwach ausgeprägt, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass beide Regierungen etliche andere drängende Baustellen haben. Die vorbereitenden Arbeiten sind getan. Jetzt muss das Konzept umgesetzt werden.

Das kann ja wahrscheinlich Bodo Ramelow nicht initiieren. Es gibt während der Chile-Reise aber auch Treffen des Bundesratspräsidenten mit dem chilenischen Senatspräsidenten, mit Abgeordneten und mit der Botschafterin. Werden Sie auch dabei sein?

Ich bin Teil der politischen Delegation, die bei vielen wichtigen Gesprächen mit dabei ist. Und klar, wenn ich helfen kann, dass da etwas in Bewegung gerät, dann werde ich das tun. Natürlich ist der Besuch von Herrn Ramelow in der Ex-Colonia-Dignidad zunächst mal nur rein symbolisch und gilt vor allem der Würdigung der Opfer. Ein Bundesratspräsident kann ja nicht dafür sorgen, dass ein Bundestagsbeschluss umgesetzt wird. Da sollte man schon sauber trennen. Aber ein symbolischer Besuch kann natürlich am Ende auch eine praktische Auswirkung haben.

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