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- Polizeigewalt
Die Gefahr überforderter Wachhunde
Eine Berliner Polizeistudie betrachtet strukturellen Rassismus in der Behörde und weist auf fehlende Alternativen in Krisensituationen hin
Donnerstagabend, der Oranienplatz in Kreuzberg: Ein vier mal sechs Meter großes Rechteck, in den Kies gezogen, darin 16 Menschen, dicht aneinandergedrängt. Sie stehen bewegungslos da, sichtlich mitgenommen von der Szene, die sie verkörpern. »Wir brauchen noch eine 17. Person«, ruft eine Aktivistin. »Die, die sich angeblich gewehrt hat.«
Die 17. Person, um die es hier geht: Kupa Ilunga Medard Mutombo. Er starb am 6. Oktober in einem Berliner Krankenhaus, nachdem er nach einem Polizeieinsatz zwei Wochen im Koma gelegen hatte. Am 14. September hatten drei Polizisten den 64-jährigen mit Schizophrenie lebenden Mann von seinem Heim für psychisch Erkrankte in Spandau in eine ambulante Einrichtung bringen sollen. Beim Anblick der Uniformierten geriet Mutombo in Panik, erzählt sein Bruder Mutombo Mansamba auf der von mehreren antirassistischen Initiativen organisierten Kundgebung in Kreuzberg. Daraufhin, so Mansamba weiter, seien die Beamten auf ihn losgegangen. »Von dem Betreuer habe ich gehört, dass mein Bruder Blut spuckte, aus Nase und Mund und ihm ein Polizist sein Knie auf den Hals drückte.«
Dann hätte ein Polizist Verstärkung gerufen, 13 weitere Beamt*innen seien gekommen. »16 Polizisten sind in das Zimmer eingedrungen von einem älteren, schmächtigen Menschen«, sagt Mansamba und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. »Ab dem Moment weiß niemand, was in dem Zimmer passiert ist.« Kurze Zeit später muss Mansambas Bruder reanimiert werden.
Die Initiative Death in Custody – zu Deutsch: Tod in Haft – zählt für 2022 bundesweit neun Todesfälle in Polizeigewahrsam. In sechs Fällen befanden sich die Opfer in einer psychischen Notlage. Und vier dieser Toten eint noch etwas: Johanna De Souza, Jozef B., Mohamed Dramé und Kupa Ilunga Medard Mutombo waren Schwarz.
Ist die Polizei rassistisch? Misshandeln die Beamt*innen vulnerable Menschen? Eine vergangene Woche veröffentlichte Studie wirft einen soziologischen Blick auf die Arbeit der Behörde – in diesem Fall die der Polizei Berlin. Das gut 140 Seiten umfassende Dokument fördert auf den ersten Blick nichts Skandalöses zutage. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sie ein Polizeiproblem, das nicht innerhalb der Behörde, sondern in der Gesellschaft liegt.
Die Studie wurde 2020 in Auftrag gegeben, als Ergänzung zu dem Versprechen des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU), mit einer bundesweiten Umfrage die Einstellungen und Wertevorstellungen von Polizist*innen zu erfassen. Im Gegensatz zu der qualitativen Bundesstudie beauftragte der damalige rot-rot-grüne Berliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Rahmen eines sogenannten 11-Punkte-Plans eine qualitative Untersuchung: Ein nicht-repräsentativer, dafür genauer Blick auf die Realität der Hauptstadtpolizei.
Neben Interviews mit 23 Expert*innen von Verbänden, die sich auf unterschiedliche Rassismus-Formen spezialisiert haben, hat ein Forscher*innenteam der Technischen Universität Berlin unter der Führung von Christiane Howe dreieinhalb Monate lang Polizeibeamt*innen aus fünf verschiedenen Dienststellen begleitet. Nicht, um rechtsextreme Einzelfälle herauszufischen, wie Howe betont, sondern um strukturellen Rassismus und andere Diskriminierungsformen im Arbeitsalltag zu betrachten. »Die Kommunikation mit Bürger*innen auf der Straße, wo Sachen eskalieren, wo ein permanentes Othering stattfindet« – das sei der Projektfokus, sagt Howe zu »nd«. Dementsprechend lassen sich aus der Studie keine statistischen Werte und Aussagen über »die Polizei« ziehen.
Was auffällt, ist die Diskrepanz zwischen der Feldforschung und den Berichten der Verbände. Die befragten Expert*innen erzählen von demütigendem Kommunikationsverhalten, Polizist*innen würden sie unterbrechen, sie »ungeduldig, unhöflich, respektlos behandeln«, anschreien, grob anfassen. Gerade Schwarze Jugendliche »würden ihrem Erleben und ihrer Erfahrungen nach weitaus häufiger als weiße im öffentlichen Raum kontrolliert«, heißt es in der Studie. Eine interviewte Person berichtet etwa von einer Situation, als ein Schwarzer Mensch zwei Beamte im Streifenwagen nach dem Weg fragte und diese erst mal seinen Ausweis verlangt hätten.
Wenn sich nicht-weiße Menschen als Betroffene an die Polizei wandten, fühlten sie sich oftmals nicht ernst genommen, besonders wenn es um Beschwerden wegen diskriminierender Übergriffe ging. »Die Polizei hört nicht zu«, so ein O-Ton aus den Interviews. Insgesamt kommen die Wissenschaftler*innen zu dem Schluss, dass das Vertrauen in die Institution Polizei bei von Rassismus betroffenen Menschen mehr als angeknackst ist.
Die Feldforschung zeichnet ein ambivalenteres Bild. Polizist*innen im Einsatz würden Menschen in Kategorien einteilen, aber das erscheint dem Forschungsteam unvermeidbar, »um mögliche Handlungen und Handlungserwartungen der betreffenden Personen antizipieren zu können«. Zugleich trügen sie »rassistische Wissensbestände« mit sich, also Vorurteile gegenüber Nicht-Weißen, die sie von klein auf gelernt hätten – wie die Mehrheit der Gesellschaft. Christiane Howe gibt ein Beispiel: Fast jeder würde bei dem Szenario »Konflikt in Menschenmasse mit Sinti und Roma« spontan an Diebstahl denken. Gute Polizeiarbeit hieße dann, diesen Gedanken sowie frühere Berufserfahrungen, in denen es tatsächlich um Diebstahl durch einen Rom oder eine Sintizza ging, auszuklammern.
Um diese Reflexion zu ermöglichen, empfiehlt die Studie etwa eine ständige Supervision, Raum für emotionale Vor- und Nachbereitung von Einsätzen und verpflichtende Aus- und Fortbildungsmodule zu strukturellem Rassismus. »Andere Verwaltungen sind auch krass rassistisch unterwegs«, sagt Howe, »aber als Behörde mit Gewaltmonopol ist die Polizei da natürlich noch mal anders gefragt.«
Zugleich würde manches Polizeiverhalten als rassistisch wahrgenommen, obwohl es in den regulären Aufgabenbereich falle. Bei der Verfolgung von Drogenhandel etwa, »da müssen sie eben diejenigen kontrollieren, die stundenlang neben den Büschen stehen« – im Görlitzer Park seien das halt größtenteils Schwarze Menschen, sagt Howe.
Eine Argumentation, die dem Berliner Landesverband der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in die Karten spielt. Ihr Sprecher Benjamin Jendro begrüßt die Studie. »Da ist der Aspekt sehr deutlich geworden, dass zahlreiche Verbände nicht genau wissen, welche Aufgaben und Pflichten der Polizei im Rechtsstaat eigentlich zukommen«, sagt Jendro »nd«.
Biplab Basu von der Opferberatungsstelle Reach Out hält Rechtmäßigkeit als Legitimation für zu kurz gedacht. Solange die Polizei dafür da sei, den Status quo einer kapitalistischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, bleibe sie rassistisch. Die persönlichen Einstellungen der Polizist*innen seien ihm ziemlich egal, sagt Basu: »Wir werden nicht den Rassismus aus ihren Köpfen herausprügeln.«
Die Beamt*innen selbst sehen sich derweil laut Studie mit »Vergeblichkeitserfahrungen« konfrontiert – ihre Motivation, »einen Dienst an der Gesellschaft zu tun«, kollidiert mit der tatsächlichen Arbeit als »Wachhunde mit Rechtskenntnissen«. Denn an den sozialen Problemen, mit deren Symptomen sie tagtäglich zu tun haben, würden sie nichts ändern.
Christiane Howe stellt im Gespräch auch deshalb einen Punkt heraus: die Überforderung. Die Polizist*innen würden zu Situationen gerufen, die eigentlich in den Bereich des Jugendamtes oder anderer Sozialdienste fallen. Howe berichtet von verwahrlosten Kindern und halberfrorenen Obdachlosen. »Was für ein gesellschaftliches Elend wir gesehen haben, das ist zum Teil unfassbar.« Aber es fehlten die notwendigen Sozialarbeiter*innen, es gebe keinen allzeit erreichbaren Krisendienst. »An wen delegieren wir hier was? Ich bin stärker erschüttert worden in Hinblick auf unseren Sozialstaat als durch die Polizeibehörde.« Benjamin Jendro von der GdP stimmt dem zu. »In der Stadt übernehmen die Polizei und Feuerwehr Aufgaben, für die sie gar nicht originär zuständig sind«, sagt der Gewerkschaftssprecher.
Howe rät deshalb zu Kommunikationstrainings, um abseits der klassischen Strafverfolgung eine ruhige, deeskalative und im Endeffekt sozialarbeiterische Polizei zu schaffen. Das Ergebnis der Studie ließe sich aber auch radikaler interpretieren: Als Forschungsgrundlage für eine konsequente Umfinanzierung nach dem Motto »Defund the Police«, also: Streicht der Polizei die Mittel!
Ein Schritt in diese Richtung steht bereits im rot-grün-roten Koalitionsvertrag: So soll ein Kriseninterventionsdienst geschaffen werden, der die Polizei begleitet. »In psychischen Notsituationen soll er helfen, zu deeskalieren, ohne dass jemand erschossen wird, die Polizei ist dafür einfach nicht ausgebildet«, sagt Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Er fordert eine baldige Umsetzung, um zukünftig Todesfälle zu verhindern.
Auf der Kundgebung am Donnerstag werden indes radikalere Konsequenzen gefordert. Ein Redner des Bündnisses Migrantifa ruft dazu auf, sich innerhalb der Communities selbst zu organisieren, anstatt Probleme auf die Polizei auszulagern. »Wir glauben nicht mehr an den Staat.«
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