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Totes Fleisch

Von der Swinger-Party zur Beziehungstragödie: Thomas Melles neuer Roman ist ein Untergangsepos der bürgerlichen Moral und Existenz

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 4 Min.

Sex, Sex, Sex und »Tavor für alle« – mit diesen Mitteln lässt sich zumindest kurzzeitig ein Eskapismus praktizieren, ein Weg-von-allem! Dabei könnte das Leben für Kathrin und Jan so hip und schön sein. Er ist inzwischen Anchorman im Fernsehen, sie hat immerhin schon ein viel beachtetes Buch geschrieben. Hinzu kommen weitere hochwertige Karten im Quartett des gehobenen Mittelstands: ein Haus, Fußbodenheizung, zwei Kinder. Doch all dies kann nicht über die innere Leere, ja das Gefühl, nur »totes Fleisch« zu sein, hinweghelfen. Nein, das ist nicht »Das leichte Leben«, wie Thomas Melles neuer, glänzender Roman heißt. Und so versucht dieses Paar, sich durch Affären und Swinger-Partys wieder zu spüren. Doch ohne Erfolg. Nach einer erschreckenden, an Edgar Allan Poes »Der Untergang des Hauses Usher« erinnernden Zerfallsgeschichte steht einzig und allein die Einsamkeit.

In diesem Scherbenhaufen spiegelt der 1975 geborene Autor den Untergang der bürgerlichen Existenz in einer von Widersprüchen bestimmten Zeit. Einerseits gebärden sich diese Figuren als weltoffen, andererseits fallen bei ihnen (mit Schamesröte) auch Begriffe wie zum Beispiel »Mischling«. Mal zeigt man Empathie mit seinen Mitmenschen, mal offenbart sich dahinter aber bloß eine tiefe bourgeoise Verachtung. Am eklatantesten gerät in diesen Gegensatzpaarungen aber das Tabu des Sexes mit Minderjährigen in den Blick. Während Jan unversehens vom eigenen Missbrauch in der Schulzeit eingeholt wird, versteigt sich Kathrin in einen phantasmagorischen Beischlaf mit dem kurzzeitigen Freund ihrer Tochter, Keanu, einem schönen Jungen aus zerrüttetem Elternhaus.

Dass sich hierbei eine »Nabokov-Paraphrase« entfaltet, mag mehr als thematische Gründe haben. Sie führt geradewegs zum künstlerischen Kern dieses ingeniösen Werks. Wie schon in seinem provokativen Drama »Ode« (2019), das grotesk das Hin und Her in den identitätspolitischen Debatten der Gegenwart zuspitzt, belässt Melle auch in seinem neuen Roman alles in der Ambivalenz. Er schlägt sich ähnlich dem ungreifbaren Erzählverfahren eines Michel Houellebecq nicht plakativ auf eine ethisch korrekte Seite. Vielmehr knallen in seinem Text die Diskursformationen aufs Härteste aneinander. Vor allem am Schluss wird dies deutlich. Nach der zuvor folgenreich reflektierten Gewalt an Kindern entwickelt sich tatsächlich eine weitestgehend ironiefreie, wenn auch nur kurz anhaltende, intensive Liaison d’amour zwischen Kathrin und Keanu. Sie wirkt regelrecht erlösend: »Endlich lag die Zukunft offen vor ihm.« Man ergänze: auch vor ihr! »Und das Leben, es würde ein leichtes sein.«

Als ungemein poetisch erweist sich dieses Ende eines Reigens aus »Resteficken« bzw. selbstexorzistischen Masturbations- und Begattungsorgien, in dem sämtliche Register der Sprache zum Einsatz kommen. Melle ist ganz der Humorist, wenn er Personen wie einen Notar folgendermaßen beschreibt: »Ein glatter Mittfünfziger, Weinkenner (…), Gigolo in Spätlese, vordergründig lieblich und weich im Angang – und hinterrücks so herb und derbe verfault«. Und Melle ist ebenso der psychologische Erzähler, dessen Gespür für starke Dialoge ganz den Theaterautor in ihm zu erkennen gibt. Schon verzweifelt ins Nichts gefragte Halbsätze à la »Was ist denn bloß – aus – ?« umfassen die Größe der Tragödie. Ganz ihrem Anspruch gemäß vermag der Schriftsteller, bekannt geworden für sein Tagebuch einer bipolaren Erkrankung, »Die Welt im Rücken« (2016), leichter Hand in die höhere Stilebene zu wechseln. Vom gerade den Beginn des Buches dominierenden Dirty Talk manövriert er uns immer wieder und auf verwunderliche Weise hinauf zu einem ergreifenden Pathos. Insbesondere Jans Verfall wird mit dantischer Gebärde und äußerst schmerzhaft zelebriert: »Es war vorbei (…). Die Flammen schlugen hoch ins All, wollten vielleicht das Himmelszelt verbrennen, diese schwarze, löchrige Plane da über ihm. Es roch nach Rauch, nach Hölle, nach Inferno. Er war nun dort gewesen, im Inferno, auch körperlich, nicht nur im Kopf oder im Game; etwas war jetzt zur Übereinstimmung gekommen.«

Was sich hinter dieser Story verbirgt, ist mehr als individuelle Schicksalsprosa. »Das leichte Leben« versteht sich trotz seiner engen Anbindung an seine Charaktere als Epochenporträt. Von seinen unentwegt strauchelnden Figuren ausgehend, legt Melle eine eindringliche Moritat über Dekadenz und moralischen Relativismus vor. Einzig der Tod wird darin am Ende ein neues Kapitel eröffnen. Aber die Schatten werden bleiben.

Thomas Melle: Das leichte Leben. Kiepenheuer & Witsch, 352 S., geb., 24 €.

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