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Schreie des Unmuts

Krunoslav Stojaković hat eine Hommage auf die jugoslawischen 68er verfasst

  • Henri Boosten
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Titel ist schon mal sehr schön, wird gewiss manche erschrecken, andere aber, vor allem Leser dieser Zeitung, erfreuen: »Für eminent kommunistische Lösungen«. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein Rezeptbuch, wie man zu einer kommunistischen Gesellschaft gelangt, also einer Assoziation von freien Menschen, wie sie Vordenkern und Visionären von Thomus Morus bis Karl Marx vorschwebte und von der auch heute noch kluge Köpfe wie etwa der slowenische Philosoph Slavoj Žižek träumen. Nein, es ist ein Blick zurück in die Geschichte.

Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien war ein Traumland für kritische Intellektuelle in der DDR und in anderen osteuropäischen Staaten, die den real praktizierten Sozialismus als nicht vollkommen, als ungenügend erachteten. Ebenso für Sozialisten im Westen. Vor allem die in den 50er Jahren dort in den Betrieben eingeführte Arbeiterselbstverwaltung faszinierte als eine Form wahrer Demokratisierung der Volkswirtschaft im Gegensatz zu den Volkseigenen Betrieben (VEB), die letztlich staatlicher Leitung und Kontrolle unterlagen. Die Idee, dass Arbeiter und Arbeiterinnen über Investitionen, Löhne und Produktion entscheiden und ihre Betriebsleitungen selbst wählen, ist ungeachtet des Scheiterns des jugoslawischen Sozialismusmodells noch heute in vielen linken Kreisen attraktiv.

Man erinnert sich im linken akademischen Milieu gern an die Praxis-Diskussionen in Jugoslawien, die einen undogmatischen, schöpferischen und humanistischen Marxismus dachten, an die alljährlich stattfindende »Sommerschule« auf der Insel Korčula, veranstaltet von den Herausgebern der Zeitschrift »Praxis«. Sie strahlte auch auf die DDR aus, wo als besonders lebhaftes Zentrum der Philosophie der Praxis um und nach Ernst Bloch (»Prinzip Hoffnung«) die Leipziger Universität firmierte. Die Beteiligten hier traf jedoch alsbald der Bannstrahl der Parteiobrigkeit.

Krunoslav Stojaković lässt jene Jahre wiederauferstehen. Sein Buch sei vor allem all jenen empfohlen, denen die Sozialismusanläufe im 20. Jahrhundert nicht egal sind, die sie nicht ad acta gelegt haben. Der Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin begnügt sich nicht mit einer Beschreibung der Ereignisse in Jugoslawien, sondern analysiert sie und sucht nach Ansatzpunkten für linke Theorie und Praxis heute.

Der Auftakt ist episch. Stojaković führt die Leser in den Hof der besetzten philosophischen Fa-
kultät der Belgrader Universität. Man schreibt den 5. Juni 1968. Der bekannte Film- und Theaterschauspieler Stevo Žigon klettert auf ein Rednerpult und rezitiert aus einem flammenden Appell von Maximilien Robespierres Rede im Jakobinerklub gemäß der Nachempfindung von Georg Büchner in »Dantons Tod«: »Wir warteten nur auf den Schrei des Unwillens, der von allen Seiten ertönt, um zu sprechen … Keinen Vertrag, keinen Waffenstillstand mit den Menschen, welche nur auf Ausplünderung des Volkes bedacht waren, welche diese Ausplünderung ungestraft zu vollbringen hofften (Ovationen), für welche die Republik eine Spekulation und die Revolution ein Handwerk war (Lärmende Ovationen).« Stojaković fragt sodann, mit welcher Intention der Mime vor Tausenden Studierenden 1968 den französischen Revolutionär, exakter: aus dem Sück eines deutschen Dichters von 1835, zitierte.

Žigon, geboren 1926 in Ljubljana, war er mit 14 Jahren dem Bund der kommunistischen Jugend Jugoslawiens beigetreten und im Zweiten Weltkrieg wegen Sabotageaktionen gegen die italienische Besatzungsmacht ins Gefängnis geworfen worden. Nach dem Sturz Mussolinis und dem Ausscheren Italiens aus dem Bündnis mit Hitlerdeutschland wurde er von den Nazis ins KZ Dachau deportiert. Nach der Befreiung vom Faschismus in die Heimat zurückgekehrt, studierte er Schauspielkunst in Ljubljana und Leningrad.

»Als Schauspieler und Parteimitglied verfügte er über ein spezifisches symbolisches Kapital«, schreibt Stojaković. »Sein öffentlicher Auftritt konnte folgerichtig als öffentliche, politische Intervention verstanden werden, und er wurde so rezipiert. Robespierres Anklage, die Revolution sei durch Technokraten verraten worden, korrespondierte mit der Einschätzung der radikalen Linken, die die Werte der jugoslawischen Revolution in Gefahr sahen.«

Die linksradikale Kritik in Jugoslawien, die sich auf den heroischen, opferreichen Kampf der Partisanen gegen die faschistischen Okkupanten berufen konnte, war gegen den Pragmatismus und Bürokratismus der führenden Parteien in Osteuropa gerichtet, die das sowjetische Sozialismusmodell kopierten, aber auch gegen die – sich seit 1948 in Konflikt mit Moskau befindliche – KP Jugoslawiens. Die »Praxis« war ihre wichtigste theoretische Plattform. Deren Herausgeber und Autoren versuchten Marx’ »Thesen zu Feuerbach« (1845) weiterzudenken. Geläufig dürfte jedem Linken die elfte These sein: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Also, nicht nur theoretisieren, sondern auch praktisch in die Zeitläufte eingreifen.

»Die parteitstaatliche Macht im sozialistischen Jugoslawien war janusköpfig, weder durchgehend entfremdend noch durchgehend befreiend. Diese Janusköpfigkeit markierte die Demarkationslinie zwischen rebellierenden Akteuren, die sich auf die Ideale des antifaschistischen Partisanenkampfes und des Kommunismus beriefen, und einer partiell satten, den Habitus einer bürokratischen Sonderklasse adaptierenden Partei- und Staatselite, der die direktdemokratischen, revolutionären Losungen des Volksbefreiungskampfes zusehends nur noch zu Legitimationszwecken dienten«, kommentiert Stojaković. Eine der öffentlichkeitswirksamsten Parolen während der Besetzung der hauptstädtischen Alma mater, die sich ab 4. Juni 1968 programmatisch »Rote Universität« nannte und sich den Namen Karl Marx zugelegt hatte, war: »Nieder mit der roten Bourgeoisie.«

»Eine aktive Rolle in der Artikulation dieser als Verrat empfundenen Degradierung der jugoslawischen Revolution nahmen Künstlerinnen und Künstler, Akademikerinnen und Akademiker
ein«, bemerkt Stojaković und ergänzt, dass diese jedoch eine Minderheit blieben, wenn auch eine einflussreiche. Insofern ähneln sich die 68er Rebellionen im Westen und Osten.

Vielleicht war Frankreich noch die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel, protestierten und demonstrierten dort doch, zumindest anfangs, Arbeiter, Studenten und Intellektuelle gemeinsam. Für Jugoslawien konstatiert Stojaković: »Die Massenbasis stellten, vor allem ab Mitte der 1960er Jahre, weithin Studentinnen und Studenten unterschiedlicher Fachrichtungen. Arbeiter und Arbeiterinnen, gleich welchen Alters, blieben der Bewegung hingegen überwiegend fern, was allerdings nicht a priori gleichgesetzt werden sollte mit fehlender Zustimmung zu ihren Inhalten.« Dies resultierte vor allem aus deren Erfahrung, dass anstelle der Arbeiterkontrolle auch in Jugoslawien die Kontrolle der Betriebe durch Parteikader getreten war – eine Usurpation der Revolution, wie sie Robespierre/Büchner skandalisiert hatten.

Vom 3. bis 9. Juni 1968 war die größte Universität Jugoslawiens von Tausenden streikenden Studentinnen und Studenten besetzt. Auslöser der Besetzung war »ein Ereignis, das in seiner scheinbaren Banalität kaum zu übertreffen war«: eine Prügelei unter Jugendlichen in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni am Rande eines Konzerts, zu dem Studenten wie auch Arbeiter Einlass begehrten. Die Konzertveranstalter gaben Letzteren den Vorzug, was Unmut bei den Studenten hervorrief, der durch das Eingreifen der Polizei noch gesteigert wurde. Daraufhin kam es zu ersten organisierten Protest- und Solidaritätsaktionen, denen sich andere Universitäten anschlossen. Im Sommer 1968 war das akademische Leben im Lande fast vollständig lahmgelegt, so der Autor, der in der Folge kenntnisreich und detailliert anschließende Debatten innerhalb der jugoslawischen Philosophie-, Film- und Theaterszene reflektiert.

Krunoslav Stojaković resümiert: »Im historischen Rückspiegel mag es so aussehen, dass vieles von dem, was linke Intellektuelle und Studierende damals einforderten, bestenfalls Unbehagen bei den politischen Eliten ausgelöst hat. Doch im Juni 1968, auf ihrem organisationspolitischen Höhepunkt, waren die jugoslawischen Achtundsechziger eine soziale Bewegung, die dem jugoslawischen Staats- und vor allem Parteiapparat mehr als nur Unbehagen bescherte.«

Krunoslav Stojaković: Für eminent kommunistische Lösungen. Linksradikale Kritik in Jugosla-
wien 1960−1970. Mandelbaum, 404 S., br., 30 €.

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