• Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Ich war, ich bin, ich werde sein

Ece Temelkuran hat aufrüttelnde und mutmachende Essays für eine bessere Welt verfasst

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie ist eine der wichtigsten weiblichen Stimmen aus der türkischen Emigranten-Community: die Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran. Derzeit lebt die 49-Jährige in Hamburg, dank eines Forschungs- und Arbeitsstipendiums. Also weiterhin im Wartestand. Denn solange Erdoğan regiert, kann sie nicht in ihre Heimat zurück. Bei uns bekannt wurde sie bisher mit zwei Romanen und einem Sachbuch über ihre Heimat Türkei. In ihrem neuen Essayband unterbreitet sie nun »Zehn Wege in eine bessere Gegenwart«.

Es ist nicht ganz einfach, in diesen Zeiten zuversichtlich zu bleiben. Putins Krieg gegen die westliche Zivilisation. Die Lügen und die Gewalt von Demagogen und Autokraten in aller Welt. Eine Seuche, die freies Atmen verhindert. Ausreichend Gründe, um depressiv, fatalistisch, zynisch oder willenlos zu werden.

Die türkische Schriftstellerin Ece Temelkuran antwortet mit einem Essayband auf ihre Weise, trotzig und kämpferisch und sendungsbewusst zugleich: »Ich habe dieses Buch geschrieben, um mich nach allem, was ich gesehen habe, selbst zu heilen«, heißt es gegen Ende. »Und was ich gesehen habe, war wohl nicht weniger widerlich, aber auch nicht erstaunlicher als das, was Sie heute erleben.« Sie wolle aber »nicht mit dem Gefühl sterben, die Welt wäre mir etwas schuldig«.

»Glaube statt Hoffnung«, lautet ein Kapitel, »Würde statt Stolz« ein zweites, »Stärke statt Macht« ein drittes. Im vorletzten Kapitel, »Freundschaft«, nimmt Temelkuran, verzweifelt ironisch, die blutige Menschheitsgeschichte in den Blick: »Jahrtausende hindurch, schon lange vor Jesus« seien ausgerechnet jene, die für »Menschenliebe und menschheitsumfassende Freundschaft sprachen«, getötet, gefoltert, ins Exil verbannt und verfemt worden. Dieses »hübsche Bild der Menschheitsgeschichte« sei so entmutigend, dass den Nachgeborenen eigentlich nur Verzweiflung und Zynismus blieben. Das könne und sollte aber nicht die Schlussfolgerung aus der düsteren Menschheitsgeschichte sein.

Temelkuran erinnert an Graswurzelbewegungen und Rebellionen in den vergangenen zehn Jahren: Gezi natürlich in ihrer Heimat Türkei, Tahrir in Ägypten, Occupy von New York aus, Black Lives Matter in den USA. Hoffnungsvoll sei das, sagt sie, auch wenn diese Bewegungen längst Vergangenheit sind oder sein sollten, erstickt und niedergeschlagen von den Machthabern. Aber: »Jede große Revolte, die den politischen Zeitgeist von heute geprägt hat, begann aus heiterem Himmel«, bemerkt sie. »Und wir, die wir das Privileg haben, über diese Bewegungen sprechen und schreiben zu dürfen, verstehen erst im Nachhinein, warum und wie sie alle entstanden … Wir müssen da sein, damit wir es nicht verpassen.«

Ece Temelkuran ist eine Globetrotterin, eine weit gereiste Frau. Sie kann blendend Englisch, ist auch in der englischsprachigen Welt bekannt. Nomadin nennt sie sich und teilt uns mit vielen Bemerkungen mit, wo sie sich gerade befand: Erbil im Nordirak, Kairo, Brüssel, Beirut, Washington, Zagreb. In ihrer Heimat Türkei kann sie als politische Autorin nicht mehr sein, dort würde sie verfolgt. In Hamburg befasst sie sich derzeit in einer privaten Denkfabrik mit Fragen zum gesellschaftlichen Wandel.

»Dieses Buch ist mein guter Grund, meinen Mitmenschen zu vergeben; ein Zeugnis, das mich in Zeiten des Zweifelns daran erinnern soll, dass ich mir meine Vernarrtheit in die eigene Spezies um meiner selbst willen leidenschaftlich bewahren muss. Es ist der Versuch, mir meine Lebensfreude zu erhalten.«

Mit »Wille und Würde« hat Ece Temelkuran ein großes Plädoyer für Solidarität und Menschlichkeit verfasst, assoziativ, anspruchsvoll, auch spirituell. Der Essayband ist so etwas wie ein Folgeband ihres traurigen wie wütenden Buches von 2019, der Titel: »Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder: Sieben Schritte in die Diktatur«. Und so zornig und wütend sie nun gegen Missstände und Entpolitisierung polemisiert, gegen den entfesselten Kapitalismus, Fake News und die Gewalt gegen Frauen, so positiv gestimmt und beseelt zugleich lässt sie dieses Buch enden: »Denn ich war, und ich bin. Und ich musste dieses Buch über das Miteinander schreiben, um sagen zu können: Ich werde sein. Der Satz ist gefährlich, aber keiner führt zu größerer Freiheit. Deshalb entscheide ich mich dafür zu sagen: Ich glaube an euch. Ihr wart. Ihr seid. Und miteinander werden wir sein.«

Ece Temelkuran: Wille und Würde. Zehn Wege in
eine bessere Gegenwart. A. d. Engl. Michaela
Grabinger. Hoffmann u. Campe, 192 S., geb., 22 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -