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»Mopeds« im Anflug
Roboter-Krieg: Russland greift verstärkt die Infrastruktur der Ukraine an
Viktoria und Bohdan Samtschenko sind tot. Am Montag barg man ihre Leichen aus den Trümmern eines Kiewer Wohnhauses. Seit 2014 lebte das Paar in Kiew, bescheiden in einer Zweizimmerwohnung. Eine Freundin sagt: Viktoria sei klug und sanft gewesen – und im sechsten Monat schwanger.
Das Paar gehörte zu den ersten Opfern der jüngsten Kamikaze-Angriffe, zu denen russische Truppen Drohnen ausschicken. Das Verteidigungsministerium in Moskau jedoch bestritt, Zivilisten ins Visier zu nehmen. Die »massiven Angriffe« mit »hochpräzisen Waffen« hätten militärischen Zielen und der Infrastruktur gegolten. Man versucht alles, damit der nächste Winter für die ukrainische Bevölkerung zur kalten Hölle wird. Die Ukraine, jüngst noch Exporteur von Strom, beklagte zu Wochenbeginn, dass ein Drittel ihres Energiesystems zusammengebrochen sei. Das Präsidialamt rief zum Stromsparen auf, der Versorger Ukrenerho kündigte Abschaltungen an.
Verantwortlich dafür sei der Iran, twitterte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. »Ein Land, das sein eigenes Volk unterdrückt, gibt jetzt Ru-Monstern Waffen für Massenmord im Herzen Europas.« Kiew wies umgehend Irans Botschafter aus, obwohl dessen Kollege in der Uno noch am Mittwoch Lieferungen an Russland bestritt. Der Vizechef der russischen Uno-Vertretung, Dmitri Poljanski, sprach von Verschwörungstheorien und warnte, man solle die technologischen Fähigkeiten der russischen Industrie nicht unterschätzen. Seltsam. Die M214 Geran-2-Drohnen, die Russland gerade verstärkt einsetzt, sehen aus wie iranische Shahed-136-Drohnen. Auch einige Vorgängermodelle, Shahed-119 sowie das Mohajer-6-Modell, wollen ukrainische Spezialisten identifiziert haben.
Shahed-Drohnen gehören zur Kategorie der sogenannten herumlungernden Munition und werden zumeist im Fünferpack von Lkw-Ladeflächen gestartet. Der Gefechtskopf einer Shahed-136 wiegt um die 50 Kilogramm. Er wird per Autopilot auf ein stationäres Ziel gelenkt. Modernere Modelle sollen zivile Satellitenverbindungen nutzen, können also im Flug programmiert werden.
Gegen militärische Ziele an der Front taugen die Drohnen nicht. Doch über dicht besiedeltem Gebiet entfalten sie große Wirkung. Auch psychologische. Angetrieben von einem lauten Zweitaktmotor, kündigen die in der Ukraine »Mopeds« genannten Killer ihr Kommen an. Mit einer geschätzten Reichweite von 2500 Kilometern können sie aus sicherer Entfernung gestartet werden. Die für Kiew bestimmten heben vermutlich in Belarus ab. Die Waffe ist klein, fliegt tief, hat nur eine geringe Radar- und Infrarotsignatur. Der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, gab zu, dass die vornehmlich in Schwärmen eingesetzten Drohnen daher eine besondere Herausforderung sind.
Die Ukraine hofft auf eine rasche Lieferung des Nasmas-Luftverteidigungssystems aus den USA, auf weitere deutsche Iris-T- und auf Aspide-Raketen aus Spanien. Auch wäre man der Nato dankbar für AIM-120-Luft-Luft-Raketen. Mit denen wehrt sich Saudi-Arabien gegen die von Huthi-Rebellen eingesetzten iranischen Drohnen. Das Problem: Jede dieser Abwehrwaffen kostet das Vielfache von Moskaus »Mopeds«. Der Stückpreis der Drohnen, so Experten, liege zwischen 20 000 und 30 000 Euro.
Kiews Militär behauptete, rund 85 Prozent der von Moskau geschickten Drohnen abgeschossen zu haben. Kaum glaubhaft, denn dafür müsste man wesentlich mehr Schnellfeuer-Flak aufbieten. Alte »Schilka« aus Sowjetzeiten sind gefragt, als noch treffsicherer könnten sich die »Gepard«-Panzer aus Deutschland erweisen. Auch Handfeuerwaffen können hilfreich sein. Am Dienstag ehrte Polizeichef Ihor Klymenko vier Kiewer Streifenbeamte, die mit ihren Kalaschnikows eine anfliegende Drohne abgeschossen haben sollen.
Produziert werden die Selbstmord-Drohnen – so Moskau nicht die Lizenz erwarb – von der Iran Aircraft Manufacturing Industrial Company. Schon im August hatten US-Geheimdienste berichtet, Russland kaufe solche Waffen. Mitte September wurden die ersten über Odessa gesichtet. Wie viele Russland geordert hat, ist unklar. Die Ukraine sprach von 2400 Stück. Eine Übertreibung? Vermutlich, doch so hofft Kiew vom Westen schneller bessere Abwehrsysteme zu erhalten.
Dass Iran – entgegen UN-Resolutionen – zu Moskaus Waffenlieferant aufsteigt, internationalisiert den Ukraine-Konflikt weiter. Nicht nur, dass Deutschland und die EU ihre bislang schon geringen Möglichkeiten, den Iran von seinem Atomprogramm abzubringen, auf Dauer schwinden sehen. Während das American Institute for the Study of War berichtet, iranische Revolutionswächter wiesen derzeit russische Kollegen auf der Krim in den Gebrauch der Terrorwaffen ein, kommt die Nachricht, dass Moskau leistungsfähigere Arash-2-Drohnen bestellte. Zudem bereite Teherans Rüstungsindustrie gerade Kurzstreckenraketen der Typen Fateh-110 und Zolfaghar für den Export vor. Die EU hat jetzt Sanktionen gegen die Drohnen-Lieferanten und drei Militärvertreter erlassen.
Warnungen vor neuen und größeren Drohnen kommen Kiew gelegen. So wandte sich die ukrainische Botschaft in Jerusalem am Dienstag im Geheimen an die israelische Regierung. Man bat darum, in möglichst kurzer Frist allerlei hocheffektive Flugabwehrwaffen samt Training zu erhalten. Kurz zuvor hatte Israels Diasporaminister Nachman Shai (Arbeitspartei) verlangt, die Regierung solle ihren Beschluss, keine Waffen an die ukrainischen Streitkräfte zu liefern, rückgängig machen.
Eine Schreckensnachricht für Moskau, die Putins Mann fürs Grobe auf den Plan rief. Dmitri Medwedew erklärte, ein solcher Schritt würde »alle diplomatischen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zerstören«. Weiter sagte der Vizechef des russischen Sicherheitsrates: Wenn Israel die Ukraine mit Waffen beliefern wolle, könne es auch gleich »Bandera und Schuchewitsch zu Helden erklären«. Der eine war ein brutaler Nazi-Kollaborateur, der andere kämpfte noch bis 1950 im Untergrund gegen die Sowjetmacht. Der »Hinweis« scheint zu wirken. Das israelische Außenministerium distanzierte sich umgehend von allen Waffenlieferungen zugunsten der Ukraine.
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