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- Opposition in Russland
»Die Menschen haben nichts zu entscheiden«
Ksenia Thorstrom hat eine viel beachtete Petition gegen Wladimir Putin gestartet. Dennoch ist es schwierig, in Russland gegen den Kreml zu protestieren
Frau Thorstrom, Ihre Petition hat im September für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Warum kam sie zu diesem Zeitpunkt?
Ksenia Thorstrom (38), Kommunalpolitikerin aus St. Petersburg, war bis vor Kurzem
Mitglied der sozialliberalen Partei Jabloko.
Gemeinsam mit anderen Oppositionspolitikern hat sie mit einer Online-Petition den
Rücktritt des russischen Staatspräsidenten
Wladimir Putin gefordert, weil »seine
Handlungen der Zukunft Russlands und seiner Bürger schaden«. Während viele
Oppositionspolitiker inzwischen inhaftiert wurden, ist Thorstrom nach Finnland gegangen. Benjamin Beutler führte das Interview mit ihr schriftlich.
Wir wollten damit unsere Kollegen von der Smolnyj, der St. Petersburger Stadtverwaltung, unterstützen. Die haben Putin kürzlich öffentlich des Verrats beschuldigt, weil er den Krieg begonnen hat und wurden dann vom russischen Staat verfolgt. Es ist auch ein guter politischer Moment, denn Putins Unterstützung sinkt nach der Gegenoffensive der Ukraine.
Warum ist der Wortlaut Ihrer Petition so kurz?
Wir sagen lediglich, dass Putin der Zukunft Russlands und seinen Bürgern schadet und fordern seinen Rücktritt. Wir gehen nicht auf Einzelheiten ein, um nicht von den neuen Zensurgesetzen über Fälschungen und die Diskreditierung von Armee und Behörden, die nach Kriegsbeginn erlassen wurden, verfolgt zu werden. Aber wir meinen natürlich den Krieg, der dem Land und den Menschen enormen Schaden zufügt.
Putins Rücktritt zu fordern, ist in Russland sehr mutig. Wer hat den Brief an Putin mit unterzeichnet?
Wir sind kommunale Bezirksabgeordnete aus ganz Russland, die vor einigen Jahren aus der gesellschaftlichen Opposition heraus gewählt wurden. Wir müssten eigentlich dringliche Probleme auf lokaler Ebene lösen. Stattdessen geben wir jetzt große politische Erklärungen im Namen des russischen Volkes ab. In der Duma gibt es keine Opposition mehr, sie steht unter der totalen Kontrolle von Putin. Vor ein paar Jahren hatten wir noch die Möglichkeit, gewählt zu werden. Jetzt ist die Opposition von den Behörden verboten. Bei den jüngsten Kommunalwahlen in Moskau hat keiner der Oppositionskandidaten ein Abgeordnetenmandat erhalten. Die digitale Stimmabgabe wurde für massiven Wahlbetrug genutzt. Das war in Putins Russland schon immer ein Problem. Seit zehn Jahren protestieren wir gegen Wahlfälschung und Korruption. Leider haben zu viele Russen kein großes Problem darin gesehen, dass das Regime ihre Stimmen einkassiert. Jetzt allerdings will ihnen das Regime mit der Mobilisierung auch das Leben wegnehmen.
Und was bringt ein Protestbrief politisch?
Ich habe viele Nachrichten von einfachen Leuten bekommen, die geschrieben haben, dass sie dankbar sind – dass ich ihnen Hoffnung gegeben habe, dass endlich jemand ihre Meinung vertritt. Ich habe riesiges Interesse von den Medien bekommen, das hatte ich nicht erwartet. Anscheinend war es im letzten Monat zu still in Russland. Die Kriegszensur hat die Menschen sehr betroffen gemacht. Die Petition war also eine gute Idee. Ich glaube, sie hat die Stimmung der Russen verändert, die vom Krieg frustriert und verängstigt waren, aber nicht offen sprechen konnten. Denn alle werden in dem Glauben gelassen, dass es eine Mehrheit gibt, die den Krieg unterstützt. Aber wir haben ihnen gezeigt, dass das nicht stimmt. Selbst innerhalb des Machtapparats gibt es Menschen, die dagegen sind und sich nicht scheuen, ihre Meinung zu sagen. Ich hoffe, unser Brief inspiriert andere.
Das klingt ein wenig nach Durchhalteparolen …
Nun, der größte Teil der Opposition sitzt im Gefängnis oder hat das Land verlassen. Alexej Nawalny, Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa sind im Gefängnis. Nawalnys Team und seine Antikorruptionsstiftung haben das Land verlassen. Das Gleiche gilt für die Organisatoren der Aktivistenbewegung Wesna (Frühling). Den Widerstand russischer Oppositionsparteien koordinieren sie vom Ausland aus.
Was also kann man konkret tun, wenn man gegen Krieg und Putin ist?
Die Menschen in Russland sind in den Untergrund gegangen, sie kleben Aufkleber und Plakate in den Städten, malen Graffiti, damit der Antikriegsstandpunkt in städtischen Gebieten zum Ausdruck kommt. Viele legen auch neue Konten in den sozialen Medien an, die nichts mit ihrer wirklichen Person zu tun haben, und schreiben Kommentare, um diejenigen zu informieren, deren einzige Quelle die Propaganda ist und ein verzerrtes Bild der Realität haben.
Und Sie selbst?
Ich bin nach Finnland gegangen. Zu Beginn des Krieges hatte ich wie viele andere Angst, dass der Militärzustand und die Mobilisierung verkündet werden und dann die Grenzen dicht sind. Jetzt ist genau das passiert, obwohl die Grenzen noch nicht geschlossen sind. Aber das kann jeden Moment passieren. (Anm. d. Red.: Finnland hat inzwischen die Einreise für russische Touristen verboten, russische Behörden kontrollieren ausreisende Männer an den Grenzen und Flughäfen nach ihrem Mobilisierungsstatus. In den besetzten Gebieten wurde das Kriegsrecht verhängt). Ich möchte keine Brücken abbrechen, deshalb versuche ich, vorsichtig zu sein.
Bis zur Mobilisierung sind die meisten Russen eher mit der Haltung aufgefallen, dass sie in Ruhe gelassen werden wollen. Nach dem Motto: Was in der Ukraine passiert, geht mich nichts an. Woher kommt diese Gleichgültigkeit?
Die ist ein Resultat von Repression und Propaganda. Viele Jahre lang hat Putins Regime den Menschen gezeigt, dass sie nichts zu entscheiden haben. Er hat alle demokratischen Mechanismen zerstört. Jetzt haben die Menschen keine Instrumente mehr, um auf die Behörden einwirken zu können. Sie haben keine echten Wahlen, also keine Abgeordneten, die sie im Parlament vertreten. Sie haben keine unabhängigen Gerichte, vor denen sie ihre Rechte schützen können. Wenn sie ihre Meinung auf der Straße äußern, werden sie von der Polizei verfolgt und drangsaliert. Wenn sie ihre Meinung in den sozialen Medien schreiben, können sie ebenfalls verfolgt werden. Selbst wenn die Menschen den Krieg nicht unterstützen, sehen sie keine Möglichkeit, die Situation zu ändern. Das führt zu Frustration und letztlich zu Flucht und zu Gleichgültigkeit.
Und Putin hat die Demokratie einfach so völlig ohne Gegenwehr abgebaut?
Ja. Zur Wahrheit gehört, dass die Menschen in Russland nicht wirklich um diese Instrumente der Einflussnahme auf die Regierung gekämpft haben. Als Wahlen gefälscht wurden, haben sie nicht ernsthaft protestiert. Stattdessen wählten sie eine Strategie der Nichtbeteiligung. Sie blieben zurückhaltend. Dieses Verhalten erklärt sich mit mangelnder demokratischer Erfahrung und mangelndem Verständnis dafür, wie Demokratie funktioniert. Die Mehrheit ist es gewohnt, alle Entscheidungen an den Staat zu delegieren. So war es zur Zarenzeit und dann in der Epoche des Sozialismus. Soziologen verweisen auf das geringe Vertrauen und die Atomisierung der russischen Gesellschaft, beides sind Folgen der totalitären Erfahrung. Der Sowjetstaat hat die horizontalen Verbindungen in der Gesellschaft zerstört, und Putin ist Nachfolger dieser Politik. Anstelle von Solidarität ziehen die Menschen Strategien des individuellen Überlebens vor.
Wie wirkt die Propaganda? Unabhängige Medien sind ja keine mehr da …
Die Propaganda ist in Russland seit mindestens zehn Jahren brachial. Sie setzt auf Emotionen und hindert die Menschen, kritisch zu denken. Sie vermischt Wahrheit und Lüge. Sie überflutet die Menschen mit verschiedenen falschen Versionen, um glauben zu machen, dass es überhaupt keine Wahrheit gibt. Durch diese Propaganda haben viele Russen ein völlig verzerrtes Bild von der aktuellen Situation. Und sie haben Angst. Denn Putin setzt die Strategie des Staatsterrors fort. Er macht niemals Zugeständnisse an die Gesellschaft, wenn die Menschen protestieren und demonstrieren. Mit allen Mitteln versucht er, den Menschen einzutrichtern, dass sie nichts entscheiden und nichts von ihnen abhängt. Am Ende wird das tatsächlich geglaubt, und die Menschen werden gleichgültig.
Beobachter meinen, dass die Mobilisierung von Rekruten für die ukrainische Front die Leute aufwecken könnte. Denn Männer, Ehefrauen und Familien seien nun persönlich vom Krieg betroffen …
Ich denke, das war eine sehr unpopuläre Entscheidung. Und Putin wird seine Unterstützung in der Bevölkerung verlieren. Niemand will in den Krieg ziehen. Viele Männer versuchen jetzt, in Panik aus dem Land zu fliehen. Wir sehen lange Schlangen an den Grenzen zu Georgien, Kasachstan, der Mongolei und Finnland. Es gibt keine klaren Kriterien für die sogenannte Teilmobilisierung. Es werden Menschen mobilisiert, die keinen Militärdienst geleistet haben, keine militärische Ausbildung oder Erfahrung haben und schon 50 oder 60 Jahre alt sind.
Warum gab es starke Proteste gegen die Mobilisierung bisher eher in entlegenen Regionen des Landes, nicht in den Metropolen?
Dort sind die Menschen hilfloser, da es schwieriger ist, sich zu verstecken oder zu fliehen. Und sie sind nicht so gut informiert, lesen keine unabhängigen Medien über VPN (Anm. d. Red.: Software zur Umgehung von Internetsperren). Proteste finden in sehr vielen Klein- und Großstädten statt. Viele werden gewaltsam unterdrückt. Innerhalb von zwei Tagen gab es mindestens fünf Brandstiftungen in den Einberufungsbüros. Proteste gibt es jetzt auch in nationalen Republiken wie Dagestan, Tschetschenien und Jakutien. Ich denke, wenn der erste Schock vorbei ist, wird der Widerstand wachsen.
Wo sehen Sie Russland in zwei Jahren, wo in zehn Jahren?
Ich sehe Russland in der Zukunft als einen normalen demokratischen Staat. Wir müssen eine Menge Arbeit leisten und Fehler korrigieren, die wir in den 90er Jahren nicht behoben haben. Jetzt werden die Menschen in Russland sehen, wie gefährlich und hässlich eine Diktatur ist, die zu Krieg, Armut und Erniedrigung führt. Ich denke, dass das russische Volk und die Eliten nach dieser schrecklichen Erfahrung eine größere Motivation haben, starke demokratische Institutionen aufzubauen, um das Land vor einer neuen Diktatur zu schützen. Putin ist das letzte Echo der totalitären Vergangenheit.
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