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  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Schafft den Knast ab

»Abolitionismus« – ein Reader bietet Alternativen zum fatalen Strafsystem

  • Volkmar Schöneburg
  • Lesedauer: 5 Min.

Im August wird in Dortmund Mohammed D., ein 16-jähriger senegalesischer Geflüchteter, bewaffnet mit einem Messer, von einem Polizisten durch fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole getötet. Nicht erst mit diesem Vorfall, sondern bereits mit den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 hat auch hierzulande die Kritik an der Polizeigewalt eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Eine der radikalsten Kritiken an den staatlichen Unterdrückungsmechanismen kommt aus der Bewegung des Abolitionismus. Insofern erscheint der von dem Philosophen Daniel Loick und der Soziologin Vanessa E. Thompson edierte Reader mit wichtigen Texten zu ebendiesem Thema genau zur richtigen Zeit.

Der Band umfasst zumeist erstmals ins Deutsche übersetzte Beiträge von 19 Autoren, von Angela Davis über Mumia Abu-Jamal bis Michel Foucault. Überwiegend stammen die Verfasser aber aus Nordamerika. Das ist nicht verwunderlich. Hat doch der Abolitionismus seine Wurzeln im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in den USA des 19. Jahrhunderts. Diese ist nur halb gelungen, da zeitgleich ein politisch-rechtliches Regime rassistischer Segregation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Bildungswesen und in öffentlichen Einrichtungen der USA etabliert wurde. Aus dieser historischen Erfahrung erschließen sich die zwei Seiten der abolitionistischen Bewegung: der destruktive Aspekt der Beseitigung der Sklaverei sowie der konstruktive Aspekt der Forderung nach neuen Institutionen, die eine ökonomische und politische Teilhabe der Betroffenen garantieren.

An diese Tradition knüpften im 20. Jahrhundert Bewegungen zur Abschaffung der Todesstrafe und der Gefängnisse, der Lager und Grenzen und der Polizeikritik an. Charakteristisch für sie ist die Verbindung zwischen Theorie und praktischem Engagement. Dabei handelt es sich beim Abolitionismus keinesfalls um eine homogene Bewegung. Es gibt anarchistische, sozialistische oder auch kommunistische Ansätze.

Eine der bedeutendsten Theoretikerinnen des Abolitionismus ist die US-amerikanische Bürg-errechtlerin und Philosophin Angela Davis, für deren Freilassung aus dem Gefängnis der Rezensent wie Tausende andere, nicht nur DDR-Bürger und Bürgerinnen, Anfang der 70er Jahre eine Postkarte in die USA schickte. Der Band enthält drei Schlüsseltexte aus ihrer Feder, in denen sie unter anderem für die Abschaffung der Gefängnisse eintritt. Wie weitere Autoren (Michel Foucault, Klaus Günther, Sarah Lamble) konstatiert sie, dass die Freiheitsstrafe, die Käfighaltung von Menschen, ihr vermeintliches Ziel der Besserung/Resozialisierung der Delinquenten verfehlt.

Die in den 80er Jahren beginnenden »Masseneinkerkerungen« in den USA haben die Kriminalitätsrate nicht gesenkt. Haftantalten sind ihrer Struktur nach totale Institutionen, die letztlich nicht vor Gewalt schützen, sondern im Gegenteil selbst Gewalt produzieren. Außerdem bestimmen, so Angela Davis, Rassismus (70 Prozent der Gefangen in den USA sind People of Color) und Klassenzugehörigkeit, wer in den Knast kommt und wer nicht. Nach Angela Davis sind Gefängnisse zu einem schwarzen Loch geworden, in dem der Auswurf der heutigen kapitalistischen Gesellschaft gelagert wird. Sie spricht von einem »gefängnisindustriellen Komplex«, um die Verflechtung von Einsperrung und Kapitalismus hervorzuheben.

Angela Davis, Sarah Lamble und Mimi E. Kim offerieren in ihren Beiträgen Alternativen zur Haft, die Gewalt besser verhindern als Gefängnisse. Dazu gehören kostenlose Gesundheits- und bessere Bildungseinrichtungen sowie das Recht auf Arbeit und Wohnung. Sie fordern die Entkriminalisierung des Drogenkonsums und der Sexarbeit sowie die Bekämpfung neuer Gesetze oder Straftatbestände, um das Knastsystem »auszuhungern«. Zudem insistieren sie auf einen Umgang mit Gewalt und Schaden, der auf Wiedergutmachung und Versöhnung statt auf Vergeltung und Rache setzt. Vorgestellt wird in dem Reader das Konzept der »sozialen Verantwortungsübernahme« (Community Accountability), nach dem bei einer Gewalttat das Umfeld in die Konfliktlösung einbezogen wird.

Natürlich lassen sich die im nordamerikanischen Kontext entwickelten Theorien und Konzepte nicht einfach auf die deutschen Zustände übertragen. Aber auch in der Bundesrepublik gibt es seit den 70er Jahren eine, zum Teil verschüttete, abolitionistische Tradition, die gerade eine Wiederbelebung erfährt und deren Protagonisten sich aktuell in die kriminalpolitische Debatte mit einem »Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen« oder Positionen zur Entrümpelung des Strafrechts einmischen (siehe www.strafvollzusarchiv.de).

In der Tradition des Abolitionismus steht auch das »Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe«. Jährlich verbüßen etwa 50 000 Personen eine Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht bezahlen können. Die Betroffenen sind oft arbeits-, mittel- und obdachlos sowie alkohol- oder drogenabhängig. Die begangenen Delikte sind überwiegend der Armutskriminalität zuzuordnen (Fahren ohne Fahrschein, Ladendiebstahl) und im Bagatellbereich angesiedelt. Das genannte Bündnis setzt sich alternativ für ein bedingungsloses Grundeinkommen und einen kostenlosen öffentlichen Nachverkehr ein.

Die nun von Justizminister Marco Buschmann (FDP) in seinem Gesetzentwurf zur Reform des Sanktionsrechts vorgeschlagene Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein fauler Kompromiss. Der Entwurf fixiert, dass »geschlechterspezifische« und »gegen sexuelle Orientierung« gerichtete Gewalt künftig als strafschärfend gelten soll. Dieser Vorschlag wurde teilweise von der politischen Linken mit Beifall bedacht. Doch letztlich bleibt die angestrebte Gesetzesänderung eine symbolische Klientel- oder Schaufensterpolitik, die an den realen Problemen nichts ändert und daher konsequent abzulehnen ist.

Als Daniel Loick gefragt wurde, was wir von einer abolitionistischen Theorie lernen könnten, hob er drei Dinge hervor: Erstens die Staatskritik, zweitens das Zusammendenken unterschiedlicher Dimensionen von Unterdrückung, speziell von Race, Class und Gender; es müsse Schluss gemacht werden mit der unsäglichen Gegenüberstellung von Klassen- und »Identitätspolitik«. Und drittens geben die Transformationsvorstellungen des Abolitionismus wichtige Impulse, um die heutigen Machtstrukturen von unten aufzusprengen. Allein dies sind drei überzeugende Gründe, nach diesem Buch zu greifen.

Daniel Loick/Vanessa E. Thompson (Hg.):
Abolitionismus. Ein Reader. Suhrkamp, 619 S.,
geb., 28 €.

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