Ein Zinssatz für 19 Inflationsraten

Die Preise in den einzelnen Euroländern steigen unterschiedlich schnell

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem Papier ist die Sache eigentlich klar. »Zentrales Ziel der Geldpolitik im Euroraum ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten«, antwortet die Deutsche Bundesbank auf Anfrage. Als Messgröße der Inflation diene die Änderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Ein zentrales Problem, vor dem EZB-Präsidentin Christine Lagarde steht – gewissermaßen der Webfehler der Eurozone –, sind die Unterschiede der Inflationsraten in den einzelnen Ländern.

Die jährliche Inflationsrate in der EU ist im September auf 10,9 Prozent gestiegen. Doch dieser Durchschnittswert sagt wenig über die wirtschaftliche Lage in einzelnen Ländern aus. Die niedrigsten Raten wurden in Frankreich mit 6,2, Malta mit 7,4 und Finnland mit 8,4 Prozent verzeichnet, die höchsten in Estland (24,1 Prozent), Litauen (22,5 Prozent) und Lettland (22,0 Prozent). Deutschland schneidet mit 10,9 Prozent schlechter ab als andere große Staaten. Gegenüber August stieg die Inflationsrate in 20 EU-Ländern, blieb in einem unverändert und ging in sechs sogar zurück.

Ein Grund für diese Unterschiede sind die unterschiedlichen Auswirkungen der Coronakrise, schreiben Pierre Beynet und Antoine Goujard vom Centre for Economic Policy Research (CEPR) in einer Studie. Der Höhepunkt der Pandemie führte 2020 zu sehr niedrigen Preisen, die von Land zu Land sehr unterschiedlich waren. Was dann zu starken Basiseffekten führte, als die Preise wieder zu steigen begannen. Das unterschiedliche Tempo, mit dem sich die Volkswirtschaften nach der Pandemie wieder erholten, hat die Streuung der Inflationsraten ebenfalls verstärkt.

Ein zweiter Grund sind die unterschiedlichen Auswirkungen der Energie- und Rohstoffpreisspitzen. Die Einzelhandelspreise für Energie stiegen in der Eurozone von August 2021 bis August 2022 um rund 40 Prozent. Der Anteil der Energie am Preisindex HVPI der einzelnen Länder ist jedoch sehr unterschiedlich: Er reicht von 6,7 Prozent in Malta bis 16,2 Prozent in Lettland, wobei der Anteil in den baltischen und osteuropäischen Ländern in der Regel höher ist. Ähnliche Unterschiede gibt es auch bei Nahrungsmitteln.

Dafür gibt es auch rein statistische Gründe: Die Zusammenstellung der »Warenkörbe« folgt einer gewissen Beliebigkeit. Er enthält jeweils 700 bis 800 »Güter« wie Wohnungen, Nahrungsmittel oder Gesundheit, die nach dem vermuteten »Durchschnittsbedarf« gewichtet sind. Der Durchschnittsbedarf ist in ärmeren Euroländern jedoch anders als in reichen. Etwa ist der Anteil der Lebensmittel in jenen deutlich höher als etwa in Deutschland. Darüber hinaus unterscheidet sich der Energiemix von Land zu Land und damit die »importierte Inflation«, die durch die Einfuhr von Gas oder Erdöl importiert wird.

Drittens spiegelt die große Streuung ein grundsätzliches Problem wider, welches Christine Lagarde und ihrem EZB-Rat zu schaffen macht: Die sich ausweitende Spanne bei der Kerninflation. Bei der Kerninflation bleiben Energie und Nahrungsmittel unberücksichtigt. Während die Abweichung für die zwölf ursprünglichen Länder des Euroraums im Großen und Ganzen dem Durchschnitt früherer Jahre entspricht, liegt sie weit über dem Durchschnitt, wenn die baltischen und osteuropäischen »neuen« Euroländer einbezogen werden. Hier wurde der einheitliche Währungsraum offenbar überdehnt: Zu unterschiedlich erscheinen die wirtschaftlichen Rahmendaten, etwa bei der Beschäftigung oder der Bedeutung von Dienstleistungen.

Für 19 der 27 EU-Länder ist der Euro die offizielle Währung. Auf die 19 unterschiedlichen Inflationsraten kann die EZB jedoch lediglich mit einem einzigen Leitzins reagieren. Diesen Donnerstag dürfte dennoch ein nächster großer Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte erfolgen. Darauf lassen Äußerungen von Ratsmitgliedern schließen. Höhere Leitzinsen, so die unter Ökonomen gängige Theorie, würden den Preisanstieg dämpfen.

Spätestens beim nächsten Mal dürfte das dann noch deutlich umstrittener sein. Rudolf Hickel von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik steht mit seinen Bedenken nicht alleine da: »Unter dem Regime der importierten Angebotsinflation kann die Geldpolitik die Inflation nicht erfolgreich bekämpfen.« Eine Zinserhöhung sei vor diesem Hintergrund kontraproduktiv. Denn erhöhte Leitzinsen führten zu höheren Zinsen für Kredite und tragen damit zur Rezession bei. Außerdem verstärkten sie die Abwertung des Euros gegenüber dem Dollar, was die importierte Inflation erhöhe.

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