Der Zeit ins Gesicht schauen

Keine Angst vor Unterhaltung und auch nicht vor dicken Schwarten: Mit »Der Traumpalast« macht Peter Prange die Weimarer Republik fühlbar

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Früher, in den Jahrzehnten vor Quentin Tarantino, war die Welt der Kultur ein scharf abgegrenztes Gebiet, durch das ein tiefer Graben verlief. Auf der einen Seite gab es die Hochkultur. Dieses Terrain beanspruchten die Bildungsbürger für sich. Sie legten Wert darauf, dass jene Werke, die sie konsumierten, das Gütesiegel »Klassik« trugen. Unter Goethe, Rembrandt und Bach lief da nichts. Auf der anderen Seite befand sich die Massenkultur. Hier waren »die kleinen Leute« zu Hause. Die Bildungsbürger blickten auf sie herab. Während sie in Abendgarderobe die Oper betraten, amüsierten sich die anderen in Lichtspielhäusern und auf Volksfesten. Bildungsbürger brüsteten sich mit den Büchern großer Denker, alldieweil die kleinen Leute – wenn überhaupt – zum Groschenheft (englisch: Pulp Fiction) griffen.

Die Populärkultur bereitete dieser Trennung ein Ende. Selbst die Kinder der Bildungsbürger hörten lieber die Beatles als Schönberg. Gegen »She loves you« hatte die Zwölftonmusik keine Chance. Und wer die Wahl zwischen »Nathan dem Weisen« und dem »Weißen Hai« hatte, entschied sich für Spielberg statt für Lessing. Der Film »Pulp Fiction« (1994) setzte schließlich dem geistigen Fast Food (und dem Hamburger Royal mit Käse) ein Denkmal. Jene, die sich dazu bekannten, Jerry Cotton, Perry Rhodan oder John Sinclair zu lesen, ernteten nicht länger verständnislose Blicke, sondern ein anerkennendes Nicken. 

Und doch gibt es eine Form der Literatur, der die Anerkennung bis heute verweigert wird. Zumindest in Deutschlands intellektuellen und popkulturellen Kreisen. Es ist der zeitgeschichtliche Unterhaltungsroman, für den hierzulande jahrzehntelang der Name Johannes Mario Simmel stand. Anders als die Trivialliteratur, die von der Verzerrung und Übertreibung lebt – in rascher Abfolge werden ihre Akteure comicähnlich in absurdeste Abenteuer geschleudert, aus denen sie wie durch ein Wunder immer wieder unversehrt auftauchen –, ist er in der Wirklichkeit zu Hause. Im Gegensatz zur »richtigen« Literatur, die den Anspruch hat, die Welt hinter der Welt zu zeigen, begnügt sich der Unterhaltungsroman mit der Abbildung der Realität. Subjektive Erzählperspektiven, Metaebenen, versteckte Botschaften? Fehlanzeige! Da ist nichts zu dechiffrieren und interpretieren. What you see, is what you get.

Bühne frei für Peter Prange! Der Mann kommt aus dem Sauerland. Das Bettengeschäft seiner Eltern wird zur Schule des Lebens: »Wenn man Verkaufsgespräche im Schlafzimmer führt, lernt man Menschen unglaublich schnell kennen, mit all ihren Vorlieben und Macken«, hat er mal bekannt. So kommt es, dass bereits der kleine Peter gerne Geschichten erzählt. Der etwas größere Peter interessiert sich dann auch für die reale Geschichte. Seine Doktorarbeit trägt den Titel »Das Paradies im Boudoir. Glanz und Elend der erotischen Libertinage im Zeitalter der Aufklärung.« Was macht man mit so einer Ausbildung? »Ich musste Schriftsteller werden.«

So verbindet Peter Prange sein Faible für Geschichten mit seinem Interesse an Geschichte. Da geht es mal um 1000 Jahre europäische Kulturgeschichte – ein zehnbändiges Werk, an dem er seit 2003 schreibt; acht Bände sind mittlerweile erschienen – und mal um 100 Jahre deutsche Historie. Auch hier ist es mit einem Band natürlich nicht getan. »Eine Familie in Deutschland« spielt in der NS-Zeit, »Unsere wunderbaren Jahre« in der Bundesrepublik von der Währungsreform 1948 bis zur Euro-Einführung 2002 und »Das Bernstein-Amulett« im geteilten Deutschland. All diese Bücher sind Schwarten. »Unsere wunderbaren Jahre« schrappt nur knapp an der 1000-Seiten-Grenze vorbei. Das zweibändige »Eine Familie in Deutschland« bringt es auf fast 1500 Seiten. Und mit seinem letzten Werk »Der Traumpalast«, von dem nun der zweite Band auf den Markt kommt, überspringt Prange auch diese Hürde. Die hohe Seitenzahl relativiert sich jedoch dadurch, dass der Roman einen Zeitraum von 16 Jahren umfasst, von 1917 bis 1933 – macht weniger als 100 Seiten pro Jahr. So viel sollte einem die Weimarer Republik schon wert sein. Zumal Peter Prange eine Menge zu erzählen hat.

Die Geschichte der Universum-Film Aktiengesellschaft, kurz: Ufa, die den Handlungsrahmen für »Der Traumpalast« bildet, spiegelt die Widersprüchlichkeit der Weimarer Republik perfekt wider. Gegründet 1917 zum Zweck der Kriegspropaganda, wurde sie nach ihrer Privatisierung 1921 mit Filmen wie »Dr. Mabuse«, »Metropolis« und »Der blaue Engel« zu einem Symbol für die neue, aufregende Zeit, ehe sie ab 1933 wieder zum Propagandawerkzeug mutierte. Widersprüchlich sind auch ihre »goldenen« Jahre. Da gab es auf der einen Seite den Medienunternehmer Alfred Hugenberg, einer der Steigbügelhalter Hitlers, der die bankrottbedrohte Ufa 1927 übernahm, und den Deutsche-Bank-Direktor Emil Georg von Stauß, der als Ufa-Aufsichtsratsmitglied enge Kontakte zur NSDAP unterhielt. Auf der anderen Seite schufen Regisseure wie Fritz Lang und Josef von Sternberg gemeinsam mit dem jüdischen Produzenten Erich Pommer künstlerische Großwerke, die nicht konträrer zur Nazi-Ideologie hätten stehen können.

All diese realen, äußerst gegensätzlichen Charaktere findet man im »Traumpalast« wieder. Die Widersprüchlichkeit dieser Zeit drückt sich aber auch in Pranges fiktiven Figuren aus. Da gibt es den Bankierssohn Tino Reichenbach – einen Charmeur, der im Filmgeschäft aufblüht –, die Jüdin Rahel Rosenberg, die die emanzipierte Frau der wilden 20er verkörpert, den deutschnationalen Major Alexander Grau – einen Ludendorff-Vertrauten, der den verlorenen Krieg rückgängig machen will – und seine fanatische Geliebte, die Bankiersgattin Constanze Reichenbach.

Pranges geschickter Kunstgriff besteht darin, dass er diese erfundenen Personen an realen Ereignissen (so den Filmproduktionen »Dr. Mabuse« und »Die Nibelungen« oder der Ermordung des jüdischen Außenministers Walter Rathenau) mitwirken lässt. Wir erleben den Hitler-Putsch mit den Augen eines begeisterten Major Grau, der vorneweg mitmarschiert. Prange gibt dessen Gedanken und Worte wieder. Der Autor sah sich deshalb zu einer »notwendigen Nachbemerkung« am Ende von Band 1 bemüßigt. Man dürfe »die Geistesäußerungen unserer Vorfahren nicht nach heutigen Maßstäben schönreden«. Vielmehr versuche er, »aus der Perspektive der in der jeweiligen Epoche beheimateten und befangenen Zeitgenossen zu erzählen, um (…) eine Vorstellung zu gewinnen, warum die historische Geschichte sich mit und durch unsere Vorfahren so entwickeln konnte, wie sie sich entwickelt hat. (…) Schauen wir also der Vergangenheit ins ungewaschene Gesicht.«

Dort gibt es in der Tat einiges zu sehen. Woran Historiker oft scheitern, das gelingt Prange: Er lässt die Vergangenheit lebendig werden, indem er seinen fiktiven Personen in den Kopf schaut.

Vermutlich wäre Hitler ohne die Weltwirtschaftskrise 1929 nie an die Macht gekommen. Sie war der verheerende Brandbeschleuniger. Doch das Feuer, das Demokratie und Freiheit fraß, war bereits Jahre zuvor entzündet worden und hatte vor sich hin geschwelt. Man versteht, nein, erfühlt bei Prange, welche Menschen sich den Faschismus herbeiwünschten. Und dabei sind wir erst im Jahr 1925, als sich die Verhältnisse beruhigt zu haben schienen – die Hyperinflation war ausgestanden und die Wirtschaft im Aufwind. »Happy End« heißt der Schlussteil in Band 1 von »Der Traumpalast«. Band 2 endet 1938 – unter der Überschrift »Epilog: Erkauftes Leben«.

Peter Prange: Der Traumpalast. Bilder von Liebe und Macht, Fischer Scherz. Bd. 1, 816 S., geb. 25 €; Bd. 2: 768 S., geb., 26 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -